Liebe Kondor,
ich habe Ihre Beiträge in Sachen Unruhe gelesen und sehe ähnliches auch auf uns zukommen. Besonders beeindruckt mich Ihr Satz „Ich könnte manchmal explodieren!!“. Genau das ist das Hauptproblem; man hält es nicht aus. Es kommt immer mal wieder der Punkt, an dem man laut wird und damit alles nur verschlimmert. Vater sagt dann „Ich habe doch gar nichts gemacht“ wie ein kleiner Junge. Aus seiner Sicht hat er recht, denn das, was er macht, ist ihm nicht bewusst - bzw. er hat es gleich wieder vergessen. „Kein Rankommen möglich“ stand in einer Eintragung des Pflegedienstes im Berichtsheft. Und wenn mal alles gut geht, steht er wieder vom Bett auf, der kranke Vater, der nichts mehr von seiner Krankheit weiß.
Wie mir Mutter heute telefonisch mitteilte, ging es gestern noch die ganze Nacht weiter. Mal ging Vater tatsächlich wieder zu Bett – stand dann aber kurz darauf wieder auf und alles wiederholte sich. Mutter hat heute besonders darauf geachtet, dass Vater tagsüber nicht vor sich hindöst – was er leicht macht, weil seinem Körper natürlich auch der Schlaf fehlt. Daher mag es vielleicht in der kommenden Nacht etwas besser gehen.
Das Mittel der Wahl ist ein Nachtcafe. Derlei gibt es in wirklich guten Heimen – zuhause kann man das schlecht installieren. Zuhause gibt es auch viele Glasschränke, Fenster, Spiegel und gemusterte Teppiche sowie Schatten. Das alles kann mit der Zeit für einen Demenzkranken zu Gift werden, ihn irritieren oder ängstigen. Aber ein Komplettumbau ist unsinnig – da wäre ein gutes Heim besser – eines, das wenig sediert und mehr therapiert. Gift für den Kranken sind auch lautes Ansprechen, Kommandieren, Realität herstellen, Vorwürfe und leider auch das Zeigen der eigenen Verzweiflung, weil sich mit dem Verlust der Vernunft die emotionale Seite immer stärker und sensibler bemerkbar macht. Es kann zu Teufelskreisen kommen: Irrationales Verhalten des Kranken -> Realitätsbezugherstellung seitens des Pflegenden -> Unverständnis und vermehrte Verwirrung des Kranken -> noch mehr Realitätsherstellungsversuche und schließlich Vorwürfe -> Angst des Kranken -> falsche Beruhigung durch Phrasen wie „Du bist doch zuhause“, „Du brauchst nicht mehr zur Arbeit“, „Deine Eltern sind schon lange tot“, usw. -> Aggressionen oder Depressionen -> erneuter Realitätsbezug durch „Es ist doch alles in Ordnung“, usw. -> irrationales Verhalten des Kranken -> (Kreis geschlossen; es folgt die Eskalation). Der Vernunftmodus, mit dem man immer erfolgreich unter „normalen“ Menschen kommunizieren kann, trifft hier auf Unverständnis und wird mit dem Gefühlsmodus des Kranken beantwortet. Mit dem Gefühlsmodus zu arbeiten, haben wir leider nicht ausreichend gelernt; wir wurden zur Meisterung unseres Lebens einseitig auf Vernunft „gedrillt“ und haben das längst zur Selbstverständlichkeit gemacht. Gefühle haben wir nur noch in der partnerschaftlichen Liebe, zu Kindern, zu Traueranlässen und wenig mehr. Das hat alles seinen Platz bekommen im Laufe des Lebens. Und dann kommt die Demenz des Angehörigen und stellt unsere wohlgeordneten inneren Strukturen in Frage. Die Herausforderungen zur Flexibilität sind enorm; es ist kaum möglich, sich dem Kranken anzupassen. Aber das ist leider der einzige Weg, denn er kann sich uns nicht mehr anpassen. Aber diese Anpassung stößt auf Grenzen. Man kann z.B. nicht immer selber dann dösen, wenn der Patient döst; man hat Termine wahrzunehmen, usw. Und dann bleiben außer Tricks – z.B. merklich abends gähnen, weil dieses ansteckt, Spaziergänge machen, für viel Bewegung sorgen, kein Koffein am Nachmittag und abends, keine aufregenden Themen bewegen oder Fernsehsendungen schauen, Glas Milch mit Honig, Baldrian (sofern das überhaupt angenommen wird), Rückenstreichelmassage (sog. Einreibungen), ruhige Musik, usw. – am Ende nur noch die starken Medikamente. Die richtigen unter ihnen müssen zudem oft mühsam erst gefunden werden und haben dann auch wieder Nebenwirkungen.
Es kommt dann schließlich der notwendige Zeitpunkt der Entscheidung für ein möglichst gutes Pflegeheim, eines möglichst vor Ort oder in der Nähe, damit man oft besuchen kann (Not-wendig, weil diese Not gewendet werden muss!). Eines, das die zeitweise Herausnahme z.B. zu Feiertagen ermöglicht. Eines, was keine Knebelverträge hat, d.h. mit moderaten Kündigungsfristen. Somit ist ein Heim kein Friedhof, kein Abstellgleis, sondern für den Kranken ein Ort seiner neuen Betätigung an dem er auf „Gleichgesinnte“ trifft, die mit ihm zusammen die für uns bizarre Welt der Demenz teilen. Will man diesen Schritt noch nicht sogleich machen, so käme auch eine 28-tägige Kurzzeitpflege in Betracht, in deren Zeit sich pflegende Angehörige etwas erholen können.
Ich bitte Sie, sich diese Möglichkeiten mal zu überlegen. Wir – Mutter und ich – wollen diesen Weg bald beschreiten zumal uns jetzt auch die Pflegedienstleitung und der Hausarzt zu Überlegungen in diese Richtung geraten haben.
Liebe Grüße – Sie sind nicht alleine!
Egon-Martin
p.s. Sie haben übrigens den hundertsten Beitrag in diesem Thread geschrieben und ihn daher in den dreistelligen Bereich befördert. Danke!
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