Ich werde ab jetzt immer mal wieder – so es mir die Zeit und eine intakte Elektronik erlaubt – immer mal wieder unter diesem Thread (der dann ein Folgethread wird) berichten, wie es meinen Vater ergeht. Das scheint mit ein gutes Vorgehen zu sein, welches auch für den Experten eine zusammenhängende Schilderung des Krankheitsverlaufes bei Morbus Alzheimer darstellt. Vielleicht ist es anderen von Nutzen.
Noch zu Weihnachten 2005 konnte ich mit meinem Vater ganz normal über alles mögliche sprechen, es waren keine Ausfallserscheinungen ersichtlich. Dann wurde er über Neujahr in eine Klinik zur Behandlung verengter Beinarterien eingewiesen und bekam nach einer erfolglos verlaufenden Dilatation (ein Ballon war während des Eingriffs geplatzt) einen Bypass. Aus der Narkose erwacht, zeigte Vater starke Desorientierungserscheinungen, die tagelang anhielten. Wieder zuhause, suchte er seinen Hausarzt auf und machte einen Test bezüglich Demenz, der aber negativ verlief. Auch besserte sich sein Zustand schnell, so dass meine Mutter und ich der Ansicht waren, dass es wohl Nebenwirkungen der Narkose oder anderer Medikamente waren, die vorübergehend eine demenzartigen Zustand hervorgerufen haben könnten.
Im Sommer 2006 jedoch kam es zu ersten Auffälligkeiten bzgl. angeblicher Briefe, nach denen Vater fast das ganze Haus absuchte. Er war der irrigen Ansicht, seine Krankenkasse habe ihm geschrieben, er müsse fortan Medikamente aus dem Ausland beziehen. Es stellte sich dann heraus, dass es ein kurzer Artikel in der Zeitschrift seiner Krankenkasse war, in dem über Medikamente aus dem Ausland nur berichtet wurde ohne eine Handlungsanweisung zu enthalten. Darüber hat er sich dann wieder beruhigt. Wenig später hat er dann meine Mutter gefragt, wer das denn von der Verwandtschaft sei, der bei ihnen zu Besuch ist. Damit war ich gemeint – sein Sohn. Selber darüber erschrocken, vergewisserte sich Vater über ein Hausarztbuch über Demenzen. Dann aber schien wider eine ganze Zeit lang Ruhe zu herrschen, alles verlief wieder normal.
Erst im Spätherbst 2006 fing es wieder an. Jetzt meinte Vater, fremde Menschen würden bei ihm in der Garage Dinge verstellen und sein Auto sei ausgetauscht worden. Wenig später meinte er das auch von seinem ganzen Haus. In Gesprächen hatte er zuweilen Wortfindungsprobleme, konnte aber das Gemeinte noch gut umschreiben. Alles in allem aber wirkte er noch überwiegend unauffällig bis auf diese „fixen Ideen“.
Im April 2007 wurde dann nach einem Besuch bei einem Neurologen mit anschließender Hirn-Tomografie vom Hausarzt die Behandlung mit einem Acetylcholinesterasehemmer begonnen. Diese Mittel bewirkte zwar keine Wunder, veränderte aber das Allgemeinbefinden meines Vaters merklich, so dass seine noch zu Ostern 2007 etwas stille und „muffelige“ Art verschwand und ich im Sommer einen fast wieder wie früher humorvollen Menschen vorfand. Leider blieben die fixen Ideen. Zwar erkannte er sein Auto und sein Haus wieder, hielt das nicht mehr für Dubletten, aber jetzt schlichen angeblich Diebe im Haus umher, die es vor allem auf sein Werkzeug abgesehen hatten. Vater begann jetzt mit sonderbaren Versteckaktionen und vieles, was sich einst in der Garage befand, kam auf den Dachboden. Selbst ein altes Kofferradio – an dem wohl kein Dieb seine Freude hätte – wurde versteckt.
Im November 2007 – letzten Monat – wurde Vater 80 Jahre alt und ich habe ihm einen neuen Rasierapparat, der in der Handhabung seinem alten entspricht, geschenkt. Machte er schon um seinen alten Rasierapparat, seiner Geldbörse und seiner neuen Brille einen grotesken Sicherheitskult (alles muss abends mit ins Schlafzimmer und mehrmals am Tage wird nachgesehen, ob es noch vorhanden ist), so steigerte sich dieses sonderbare Verhalten mit dem neuen Gerät noch. Zudem wiederholt Vater öfter eine Frage mehrmals hintereinander und wirkt allgemein unruhiger – jedoch nur selten nachts (manchmal steht er auf, weil er meint, zu Arbeit zu müssen). Man muss ihn auch oft mehrmals auffordern zum Essen zu kommen.
Alles das nervt zusehends meine 78-jährige Mutter und auch ich hatte schon Anwandlungen von Zorn in mir gespürt ob dieser vermeintlichen Sturheit und Begriffsstutzigkeit. Immer und immer wieder muss man sich selber sagen, dass dieses ja nicht absichtlich geschieht sondern Krankheit ist. Jedoch bleibt der langsam entstehende nervliche Schaden so oder so ein Schaden – ob Absicht oder nicht.
Ich versuche, meine Mutter zu bewegen, dem Hausarzt darüber Mitteilung zu machen und ggf. für Vater ein leichtes Neuroleptikum und für sich selber ein leichtes Tranquilanzium verschreiben zu lassen für Tage, an denen Vater besonders verwirrt ist. Aber meine Mutter hat einfach Angst, wenn beide beim Hausarzt sind, damit anzufangen, weil der alte Herr dann garstig und noch verwirrter reagieren könnte, denn m.E. schwindet bei Vater die Krankheitseinsicht („ist ja alles nicht so schlimm, ich kann doch noch so viel“). Tatsächlich ist Vater körperlich überwiegend noch fit für sein Alter, kommt noch gut mit Gartenarbeit, der täglichen Toilette und andere Routinen zurecht und verfügt auch noch über viele seiner langjährigen handwerklichen Fähigkeiten (hat noch vor kurzem in meinem Beisein einen Heizlüfter fachgerecht repariert). Uns was für mich besonders rätselhaft ist, ist die Tatsache, dass er manchmal noch weiß, was die Nachrichten vor kurzem gebracht haben, usw. Und dann wieder das Vielfachfragen mit ein und derselben Frage. Welch eine seltsame Krankheit! Bei Neorodegeneration erwartet man ja den irreversiblen Verlust der Erinnerungsfähigkeit, aber das dieses zuweilen wieder intakt sein kann, ist schon sehr merkwürdig. Offensichtlich laufen im Gehirn Kompensationsprozesse ab. Vielleicht kann daraus sogar ein neues Therapiekonzept erwachsen, wenn man dem mal näher nachgeht.
M.E. muss fachkompetente Pflegeunterstützung nicht erst einsetzen, wenn der Kranke sich nicht mehr alleine anziehen kann, usw. sondern bei diesen Krankheiten viel früher, denn es kann ja einer 78-jährigen, selber unter Hüftleiden, Katarakt und Glaukom leidenden Frau nicht zugemutet werden, sich Tag für Tag auch noch fortgesetzt „nerven“ zu lassen. Ich habe mittlerweile schon mehr Mitleid mit meiner Mutter als mit meinem Vater, zumal ich erste kleine Anzeichen einer egozentrischen und rücksichtlosen Wesensveränderung an ihm bemerke. Das könnte bedeuten, dass sich die Krankheit bereits zum OFC „vorgefressen“ hat. Wenn Vater zum „Phineas Gage“ werden sollte, wird eine Heimeinweisung nicht zu umgehen sein. Ich hoffe, dass es niemals dazu kommen wird. Es ist zum Verzweifeln.
Gruss
Egon-Martin
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