Ich bin Anfang 30 und mache wegen sozialer Phobie und einem Mangel an sozialer Kompetenz eine Psychotherapie. Vor kurzem habe ich die Therapie bei einer 29-jährigen Psychotherapeutin begonnen. 5 von 45 Sitzungen liegen nun hinter mir. Bis gestern war ich im Wesentlichen sehr zufrieden mit meiner Therapie und der Therapeut-Patient-Dyade.
Nun kam es jedoch zu folgendem Zwischenfall:
Bereits vor meiner ersten probatorischen Sitzung habe ich mich über die Therapeutin im Internet informiert, da ich zuvor kaum etwas von ihr wusste. (Dies mache ich bei vielen mir unbekannten Gesprächspartnern so und war bisher nie ein Problem. Ich spreche das meist aber auch nicht explizit an.)
Zu diesem Zweck habe ich über Google Informationen über die Therapeutin gesucht. Neben dienstlichen Informationen habe ich dabei auch etwas über ihre Hobbys herausgefunden.
Zum Beispiel ist die Therapeutin Hobbyfotografin und hat diverse (schöne aber völlig harmlose und nicht anstößige) Fotos auf einer entsprechenden Internetplattform online gestellt.
(Alle Daten und Fotos waren frei zugänglich und somit für jeden Internetnutzer einsehbar. Ich habe damit also weder gegen irgendwelche Gesetze verstoßen, noch habe ich nach meinen Empfinden und dem von einigen befragten Freunden und Verwandten einen Grenzverstoß begangen.)
Ich wies die Psychotherapeutin gelegentlich darauf hin, dass mir die 50 Minuten pro Woche kaum genügen und ich die Zeit deshalb wenigstens so effektiv wie möglich nutzen möchte. Das setzt von meiner Seite eine intensive Vorbereitung voraus. Und wenn ich durch meine Internetrecherchen auch ein bisschen über das Privatleben herausgefunden habe, dann kann ich dieses Wissen z.B. in anschaulichere Beispiele überführen und meinen Standpunkt und meine Argumente im Gespräch dadurch schneller verdeutlichen.
Bei meiner heutigen Sitzung kam ich nun erstmalig auf meine Online-Recherchen zu sprechen. Die Psychotherapeutin reagierte entsetzt, als Sie das erfuhr und sprach von einer groben Grenzverletzung.
Wenn ich ihr nicht verspreche, dieses Verhalten unverzüglich abzustellen und auch alle über sie auf meinem PC gespeicherten Informationen zu löschen, werde sie die Psychotherapie mit mir sofort abbrechen.
Ich habe nun schon mit einigen Bekannten und Freunden über dieses Verhalten gesprochen. Alle sind der Meinung, dass die Psychotherapeutin hier eindeutig überreagiert. Schließlich hat sie diese Fotos wie gesagt nicht nur für ihre Freunde freigeschaltet sondern für jeden Internetnutzer.
Außerdem verstößt sie gegen die Grundregel aller Psychotherapien, nämlich dass der Patient alles sagen darf.
Da ich die Psychotherapie nicht abbrechen möchte, habe ich ihr das gewünschte Versprechen gegeben.
(Zwar ist meine Psychotherapeutin vermutlich nicht so erfahren und daher teilweise etwas zu zögerlich und zurückhaltend mit konkreten Empfehlungen im Vergleich zu einigen anderen Therapeuten, die ich in verschiedenen probatorischen Sitzungen kennengelernt habe. Die aus meiner Sicht entscheidende intrinsische Motivation sehe ich aber bei meiner Therapeutin als am besten gegeben.)
Da sie nach der Rückkehr einer erfahreneren Kollegin aus dem Urlaub in einer Woche dort in Supervision gehen will, besteht aber immer noch die Gefahr, dass die Psychotherapie abgebrochen wird. So wie sie über die Supervision mir gegenüber gesprochen hat, klang das jedenfalls eher nach einer Drohung als nach einem Rat suchen um die Psychotherapie erfolgreich weiterführen zu können.
Meine Fragen:
1. Wie beurteilen Sie das Verhalten meiner Psychotherapeutin?
Was kann ich / sollte die Psychotherapeutin unternehmen, damit die Therapie erfolgreich und mit möglichst großer Offenheit, Ehrlichkeit, Freiwilligkeit, intrinsischer Motivation und hohem gegenseitigen Vertrauen weitergeführt werden kann?
Auch mit Hilfe dieses Forums möchte ich verstehen:
2. Wieso ich es als Wertschätzung empfinde, wenn (jemand sich die Zeit nimmt, sich für mich interessiert) und meinen Namen bei Google eingibt.
(Jeder Talkshowmoderator liest zuvor ein Dossier über seine Gesprächspartner. Viele Arbeitgeber googeln Bewerber im Internet. Auch Politiker informieren sich vor wichtigen Treffen über ihre Gesprächspartner (und sei es nur um im Small Talk besser warm miteinander zu werden / eine vertrautere Atmosphäre zu schaffen.))
3. Andere genau dasselbe Verhalten als grobe Grenzverletzung empfinden (und das selbst im Rahmen einer Therapie, bei der offen auch über Fehler gesprochen werden sollte) nicht als Ausgangslage die weitere Arbeit akzeptieren können / wollen
(Ist es auch ein soziales absolutes No-go / sozial inadäquat ehemalige Klassenkameraden über z.B. Google oder Stayfriends zu suchen?)
4. Empfehlungen darüber bekommen, was ich tun muss, damit die Therapie nicht abgebrochen wird.
5. Empfehlungen hören, wie der Therapieerfolg maximiert werden kann.
(Aus meiner Sicht müsste eine von meiner Therapeutin als solche empfundene Grenzverletzung doch als Bestandteil der Ausgangslage der Psychotherapie gesehen werden und somit als Bestandteil meiner Stärken und Schwächen zu Beginn der Therapie. Nach dieser Bestandsaufnahme sollte dann versucht werden, an den Schwächen zu arbeiten. Oder sehe ich das falsch?)
Zusätzlich problematisch ist, dass mir Ehrlichkeit und Offenheit im Gespräch sehr wichtig sind. Wenn ich aber ehrlich über alles rede und dann Gefahr laufe, mit dem Abbruch der Therapie bestraft zu werden, dann belastet das meine Vertrauensbeziehung deutlich.
An einigen Beispielen will ich meine Sichtweise bzw. ggf. mein Verständnisproblem noch verdeutlichen:
Wenn ich mich für Angela Merkel interessiere, recherchiere ich im Internet nach ihr. (Und wie man an der Yellow Press sieht, interessiert bei Frau Merkel viele nicht nur deren Politik sondern auch deren Frisur, Kleidung, etc.)
Wenn ich mich über ein Medikament informieren will google ich danach.
Wenn ich etwas über einen Arbeitgeber / ein Unternehmen bzw. dessen Chef informieren will recherchiere ich im Internet.
Auch beim rechtsradikalen norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik interessierten sich nach dem Attentat doch viele Menschen über die Hintergründe und den Menschen als solchen.
Ist das noch alles normal oder auch bereits grenzüberschreitend oder pervers? Oder ist nicht gerade das Internet auch für solche Zwecke entstanden?
Wenn ich einen Arzt suche, der besonders kompetent ist, genügt mir nicht nur Name, Adresse und Fachrichtung sondern ich recherchiere auch nach Referenzen, Ruf, Bewertungen, etc. Und wenn ich dabei zufällig auf etwas treffe, was mich interessiert auch wenn es nichts mit dessen Kompetenz zu tun hat (z.B. ein interessantes Hobby), dann schaue ich mir auch das an. (Ich gehe schließlich davon aus, dass die Informationen freiwillig für jedermann zugänglich im Internet stehen und nutze somit lediglich dieses Angebot.)
Ist dieses Verhalten nun grenzwertig oder bereits grenzüberschreitend?
Und bei einem Arzt spielt in meinem Fall die Gesprächsatmosphäre i.d.R. noch keine so wichtige Rolle, weil die Kommunikation dort nur sehr kurz dauert.
Bei einem Psychotherapeuten ist das Gespräch aber das zentrale Element und eine gute Gesprächsatmosphäre somit besonders wichtig.
Wenn ich 45x50 Min. mit einer Person verbringe, ihr mein Vertrauen schenken soll, offen, ehrlich und echt mit ihr kommunizieren soll, dann möchte ich schon genau wissen, wem ich mich so anvertraue und habe schon allein aus beruflichen / professionellen Gründen ein recht umfassendes Informationsbedürfnis über diese Person. Und schon allein weil ich nicht viel wertvolle Gesprächszeit mit solchen Themen verbrauchen will, nutze ich dann Quellen wie das Internet um mein Wissensbedürfnis zu stillen.
Den meisten anderen Personen, bei denen ich dies mache, erzähle ich aber natürlich nichts von meinen "Vorbereitungen" – zumindest nicht so direkt sondern allenfalls am Rande.
Wenn zusätzlich noch persönliche Sympathie für eine Person dazukommt, wird das ganze lediglich noch verstärkt.
Es wäre nett wenn mir jemand erklären würde, bis wann mein Verhalten ein normales und legitimes Verhalten ist und ab wann es grenzüberschreitend wird. (Wenn sie es sich aussuchen könnten würde viele sachorientierte Politiker die Öffentlichkeit schließlich auch komplett aus ihrem Privatleben heraushalten. Sie müssen aber in Kauf nehmen, dass Teile der Öffentlichkeit daran teilhaben (wollen und können), (auch) weil es nicht gesetzlich verboten ist. Die Bekanntgabe einer (längst beendete) Beziehung eines Politikers zu einer 16-jährigen inkl. massivem öffentlichen Druck ist sicherlich von den Betroffenen so nicht gewollt worden und wird vermutlich von diesen auch als Grenzüberschreitung empfunden…)
Nochmal meine Kernthesen:
- Grundregel: Der Patient darf mit der Therapeutin über ALLES reden.
- Wenn ich mich negativ gegenüber anderen Menschen Verhalte ist es geradezu unbedingt erforderlich dies auch bei der Therapeutin zu tun, damit zunächst die Diagnose und dann die Therapie das Problem auch an der Wurzel packen. Wenn ich mich über anderen Leute im Internet informiere, warum dann ausgerechnet nicht auch über die Psychotherapeutin? Oder bin ich nur solange therapierbar wie ich 100 Leuten hinterherspioniere aber nicht der Psychotherapeutin. Wenn ich auch dort etwas ergoogle, bin ich auf einmal untherapierbar?
Wenn man diesen Aussagen zustimmt, dann kann mein Verhalten grundsätzlich immer noch erschreckend und negativ sein. Aber genau wegen solchen Dingen braucht man dann ja die Psychotherapie...
Für alle Antworten bedanke ich mich im Voraus.
Viele Grüße
Towejo
PS: Inzwischen hat die Psychotherapeutin alle eigenen Fotos von der Internetplattform gelöscht. Das unterstreicht, dass sie wohl wirklich verletzt wurde. Das bedauere ich sehr. Schließlich war es nie meine Absicht, jemanden zu verletzen oder auch nur dazu zu bringen sich meinetwegen einzuschränken. Grundsätzlich bin ich aber der Meinung, dass an dieser Stelle der Fehler / die Schwäche eher bei meiner Therapeutin liegt.
PPS: Massiv psychisch kranke Menschen oder auch schwerkriminelle Menschen sind teilweise vermutlich unberechenbar. Trotzdem bekommen diese einen Psychotherapeuten zur Seite gestellt, der Ihnen helfen soll (solange diese Menschen als therapierbar gelten). Es würde mich doch sehr wundern wenn solch ein Psychotherapeut bei einem derartig geringen Grenzverstoß die Psychotherapie abbrechen würde.
Kommentar