dein posting vom 30.10.05:
Das ist eigentlich eine typisch biologistische Erklärung, ich gebe dir aber recht, was hier beschrieben wird, ist keine Moralität in dem Sinne, wie man sie landläufig verstehen würde. Wenn man diese Theorie weiter verfolgt führt sie vor allem zu etwas wirklich unerträglichem: zum Determinismus.
Ein Mensch der aus "Verlustängsten" heraus handelt oder aus Egoismus ist nicht frei. Man kann diese These natürlich vertreten, auch der Determinismus ist eine Position, aber letztlich würde ich ihn nicht nur als unbefriedigend ansehen, ich würde auch sagen, dass er zu kurz greift...
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Zur diskussion:
aus "Auf dem Weg nach Innen"
von Prof. Wolf Singer
Prolog: Wo stehen wir im Augenblick (in den 90ern) mit unseren Bemühungen, auch höhere Hirnfunktionen verstehen zu wollen?
Ähnlich wie vor zwei Jahrzehnten die Reduktion zellulärer Prozesse auf ihre molekulare Basis zu einer Verschmelzung bislang getrennter Disziplinen führte, bewirkt nun
die Reduktion von kognitiven Phänomenen auf ihr neuronales Substrat
unverhoffte Begegnungen zwischen den vormals eigenständigen psychologischen und neurobiologischen Forschungsrichtungen.
Entsprechend kooperieren unsere geisteswissenschaftlichen und biomedizinischen Sektionen bei der Betreuung unserer Hirnforschungsinstitute.
Jede der mit Hirnfunktionen befassten Disziplinen - von denen alle mit den Namen von Max Planck-Instituten verbunden sind, die Psychologie, die Neuropsychologie, die Psycholinguistik, die biologische Kybernetik, die Psychiatrie, die Neurologie, und schließlich die system- und zellphysiologisch arbeitenden Abteilungen der Max-Planck-Institute für Neurobiologie, Hirnforschung und medizinische Forschung -, sie alle verfügen inzwischen über konzeptionelle oder methodische Brückenköpfe, welche direkte Verbindungen zur nächst niedrigeren Analyseebene ermöglichen. Wie schon bei der molekularen Neurobiologie, so sind auch in diesem Bereich der Hirnforschung die synergistischen Effekte gewaltig, und dies ist der zweite Grund, weshalb ich eingangs vom Goldenen Zeitalter der Hirnforschung sprach.
Weil es unmöglich ist, aus der Fülle neuer Erkenntnisse die bedeutendste herauszufinden, will ich mich darauf beschränken, Ihnen das verwirrendste der Probleme vorzustellen, die uns derzeit umtreiben.
Entgegen der Vermutung Descartes, dass es irgendwo im Gehirn ein singuläres Zentrum geben müsse, in dem alle Informationen zusammenkommen und einer einheitlichen Interpretation zugeführt werden
- einen Ort an der Spitze der Verarbeitungspyramide, wo das innere Auge die Welt und sich selbst betrachtet -,
entgegen dieser plausiblen Annahme erbrachte die Hirnforschung den Beweis, dass ein solches Zentrum nicht existiert.
Brodmanns Vermutung hat sich bestätigt.
Er folgerte schon zu Beginn dieses Jahrhunderts aus seiner Entdeckung funk¬tionell und anatomisch abgrenzbarer Hirnrindenareale:
»Wir müssen daher die Annahme, dass eine Verstandesleistung oder ein Gemütsvorgang ... in einem einzelnen umschriebenen Rindenteile zustande komme, mag man diesen nun >Assoziationszentrum< oder >Denkorgan< oder ähnlich nennen, als eine ganz unmögliche psychologische Vorstellung ablehnen.«
Uns stellt sich heute das Gehirn als extrem distributiv organisiertes System dar, in dem zahllose Teilaspekte der einlaufenden Signale parzelliert und parallel abgearbeitet werden.
Zwar stehen alle Zentren miteinander über mächtige und reziproke Bahnverbindungen in intensiver Wechselwirkung,
aber es ist völlig unklar (!!!)
wie ein derart parallel organisiertes System dazu kommt, das Bild einer kohärenten Wahrnehmungswelt zu entwerfen und sich insgesamt zielgerichtet zu verhalten.
Ja, es ist noch nicht einmal klar, wie in diesen distributiven Architekturen einzelne Inhalte repräsentiert werden können, Wahrnehmungsobjekte, Worte, präzise Erinnerungen oder erlernte motorische Programme.
Wir bezeichnen dieses faszinierende Rätsel als das Bindungsproblem und wissen, dass wir ohne seine Lösung keine geschlossene Hirntheorie formulieren können.
Besonders spannend ist, dass sich bei der Bearbeitung dieses Problems überraschende Parallelen zu anderen komplexen Systemen ergeben, die ebenfalls distributiv organisiert sind, lenkender Konvergenzzentren entbehren und dennoch insgesamt koordiniertes, gerichtetes Verhalten zeigen, weil sie über mächtige Mechanismen der Selbstorganisation verfügen.
Hierzu gehören die Superorganismen der Insektenstaaten ebenso wie unsere verflochtenen Wirtschafts- und Sozialsysteme.
Es wäre lohnend, der epistemologischen Frage nachzugehen, ob es unsere postmoderne Weltsicht ist, die uns komplexe Systeme so sehen lässt, oder ob unsere gegenwärtige Weltsicht durch die Erfahrung mit solchen Systemen geprägt wird.
Lassen Sie mich mit einer Prognose schließen.
Wenn Verstehen meint, dass beobachtbare Phänomene durch Prozesse auf der jeweils nächst niedrigen Analyseebene erklärbar werden,
dann deutet alles darauf hin, dass die Hirnforschung auf dem Weg ist,
ihren
reduktionistischen Ansatz auf alle relevanten Ebenen lückenlos auszudehnen.
Sie wird die Phänomene neuronaler Kommunikation auf ihre molekularen und zellulären Grundlagen zurückführen und ist dabei, Verhaltensphänomene, einschließlich psychischer und mentaler Funktionen, durch neuronale Kommunikationsprozesse zu erklären.
Diese Prognose hat weit reichende erkenntnistheoretische und ethische Implikationen, gehören doch zu den Explananda nicht nur Sinnesfunktionen und motorische Leistungen, sondern auch die unser Menschenbild prägenden Erfahrungen psychischen Erlebens:
unsere Motivationen, Denkstrukturen, Wahrnehmungen und Empfindungen.
Wenn sich der eingeschlagene reduktionistische Weg tatsächlich bis zum Ende als gangbar erweisen sollte,
dann wird er uns mit völlig neuen Fragen konfrontieren,
auf die wir uns schon jetzt vorbereiten sollten.
Wie verhält es sich dann mit unserer Erfahrung, dass wir frei entscheiden können?
Wie verhält es sich mit Schuldzuschreibungen und unserem Kulturgut der Verantwortlichkeit?
Wie sollen wir mit der Erkenntnis umgehen, dass in unserem Gehirn kein Konvergenzzentrum auszumachen ist, wo allein Entscheidungen fallen,
wo Handlungspläne entworfen werden, und wo das Bewusstsein seinen Sitz hat?
Wie sollen wir uns vorstellen, dass ein willentlicher Entschluss gefasst wird, der dann auf unser Gehirn einwirkt, damit dieses, dem willentlichen Impuls gehorchend, diese oder jene Aktion ausführt?
Wo sollen wir das selbst bestimmte Ich verorten, das wir wahrnehmen, als sei es von Hirnfunktionen losgelöst und ihnen gegenübergestellt?
Welche Veränderung wird der Erkenntnisbegriff erfahren, wenn wir erkennen können, welche neuronalen Prozesse unseren kognitiven Funktionen, unse¬ren Werkzeugen der Erkenntnis, zugrunde liegen?
Und wie werden wir die als zwingend erfahrene Dichotomie von Geist und Körper, von Leib und Seele verteidigen wollen, wenn wir uns gleichzeitig anschicken, das eine auf das andere zurückzuführen?
Wie immer auch die Suche ausgehen wird, gleich, welchen Erscheinungen wir auf dem Weg in unser Innerstes begegnen werden,
fest steht,
dass die Hirnforschung unser Selbstverständnis tief greifend verändern wird.
Erkennbar ist auch, dass die Hirnforschung dort, wo sie nach den höchsten Funktionen fragt, in angestammte Territorien der Geisteswissenschaften eindringt - mit der faszinierenden Konsequenz einer erneuten Annäherung von Natur- und Kulturwissenschaften.
Und wir werden dieser Annäherung bedürfen, wenn wir die philosophischen, ethischen und moralischen Probleme bewältigen wollen, mit denen wir auf unserem Weg nach innen mehr und mehr konfrontiert sein werden.
Wir werden nicht innehalten können, sondern fortfahren müssen, verstehen zu wollen, wenn wir unsere Verantwortung für die Zukunft ernst nehmen.
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