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Fühlen, Denken, Handeln

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    aus:
    Fühlen, Denken, Handeln - das letzte Kapitel
    von Prof. Gerhard Roth

    16. Zusammenfassung und Ausblick: Ein neues Menschenbild?

    Das in unserer Gesellschaft noch weithin gültige - überwiegend von den Sozial- und Geisteswissenschaften geprägte - Bild des Menschen ist das des vernunftgeleiteten, bewusst und frei entscheidenden Individuums, das in dem Umfang, in dem es bewusst und frei handelt, für sein Tun verantwortlich ist. Der Mensch hat sich von seinem »tierischen Erbe« weitgehend befreit. Er ist das, was Erziehung und Gesellschaft aus ihm machen; möglicherweise vorhandene biologische Determinanten sind entweder vernachlässigbar oder nur als begrenzende Faktoren in Rechnung zu stellen.
    Diesem Bild stehen diejenigen Anschauungen diametral gegenüber, die ich im ersten Kapitel dieses Buches vorgestellt habe, nämlich die des Behaviorismus, der Psychoanalyse Sigmund Freuds, der Instinkttheorie von Konrad Lorenz und Niko Tinbergen und der Soziobiologie bzw. Verhaltensökologie. So unterschiedlich diese genannten Theorien auch sind, sie alle bestreiten die zentrale Rolle des vernünftigen, bewusst und frei entscheidenden Ich bei der Handlungssteuerung. Für den Behaviorismus sind es die Konditionierungen durch die Umwelt, für Freud die Triebe und Zwänge des Unbewussten, für Lorenz und Tinbergen die Instinkte und für die Soziobiologie die »selbstsüchtigen« Gene bzw. evolutionär entstandene Verhaltensstrategien, welche nicht nur tierisches, sondern auch menschliches Verhalten determinieren. Der Mensch hat, wenn überhaupt, nur begrenzte Einsicht in diese Determinanten, und er ist nicht für sein Tun verantwortlich, da dieses nicht oder nicht wesentlich von ihm bestimmt wird.
    Im Anschluss an die Darstellung dieser vier Theorien stellte sich die Frage, ob und inwieweit das traditionelle Menschenbild auf der einen Seite und die soeben genannten biologienahen Anschauungen andererseits durch die neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften und Kognitionswissenschaften gestützt werden. Die Ergebnisse meiner Untersuchungen fasse ich folgendermaßen zusammen:

    1. Es gibt keinen »qualitativen evolutiven Sprung« zwischen
    dem Verhalten des Menschen und dem seiner nächsten Verwandten, der Schimpansen, und im weiteren Sinne dem der anderen Primaten und Säugetiere. In weiten Bereichen unseres Individual- und Gruppenverhaltens (Partnerwahl, Sexualität, Dominanz- und Konfliktverhalten) ähneln wir stark den anderen Großaffen bzw. weichen von ihnen ab, wie diese untereinander abweichen. Dem entspricht, dass es im Aufbau des menschlichen Gehirns bis auf Teile des
    Broca-Sprachzentrums keine qualitativen Unterschiede zu den Gehirnen der anderen Großaffen gibt.
    Besonders hinsichtlich der Arbeit des limbischen Systems sind wir typische Säugetiere.
    Einzig der Besitz einer syntaktischen Sprache unterscheidet den Menschen von allen anderen Tieren.

    2. Es trifft nicht zu, dass sich diejenigen Teile des menschlichen Gehirns, die mit Denken und Planhandlungen zu tun haben (der präfrontale Cortex), besonders stark entwickelt hätten. Vielmehr scheint die intellektuelle Überlegenheit des Menschen das Ergebnis einer ungerichteten, wenngleich starken Hirnvergrößerung im Laufe der Menschwerdung zu sein, die zu einer zwangsläufigen Vergrößerung der Großhirnrinde einschließlich der Neuronen und Synapsen und der mit ihr zusammenhängenden subcorticalen Zentren führte. Besonders wichtig ist die verlängerte Reifeperiode des Gehirns, die den Menschen in seinem ersten Lebensabschnitt besonders prägbar macht.
    3. Bewusstsein ist nicht die Krone menschlichen Wesens und nicht die entscheidende Grundlage unseres Handelns. Vielmehr repräsentieren die verschiedenen Bewusstseinsformen besondere Zustände der Informationsverarbeitung zugunsten einer detaillierten, multimodalen und semantisch tiefen Analyse von Sachverhalten und eines schnellen Zusammenfügens neuer Bedeutungsnetzwerke, insbesondere im Kontext sozialer Interaktionen. Bewusstseinszustände überwinden damit funktionale Beschränktheiten unbewusster Informationsverarbeitung zugunsten einer effektiven und kreativen Handlungsplanung.

    4. Vernunft und Verstand sind eingebettet in die affektive und emotionale Natur des Menschen. Die weitgehend unbewusst arbeitenden Zentren des limbischen Systems bilden sich nicht nur viel früher aus als die bewusst arbeitenden corticalen Zentren, sondern sie geben auch den Rahmen vor, innerhalb dessen diese arbeiten. Das limbische System bewertet alles, was wir tun, nach gut oder lustvoll und damit erstrebenswert bzw. nach schlecht, schmerzhaft oder nachteilig und damit zu vermeiden und speichert die Ergebnisse dieser Bewertung im emotionalen Erfahrungsgedächtnis ab. Bewusstsein und Einsicht können nur mit »Zustimmung« des limbischen Systems in Handeln umgesetzt werden.

    5. Persönlichkeit und Charakter des Menschen und damit die Grundstrukturen des Verhältnisses zu sich selbst und zu seiner Umwelt werden sehr früh festgelegt. Genetisch oder bereits vorgeburtlich bedingte Charakterzüge machen knapp die Hälfte unserer Persönlichkeit aus. Hinzu kommen Merkmale, die durch prägungssartige Vorgänge kurz nach der Geburt bzw. den ersten drei bis fünf Jahren bestimmt werden; besonders wichtig scheint die Interaktion mit den Bezugspersonen (Mutter, Vater) zu sein. Die Bedeutung des frühen Kindesalters wird unterstrichen durch Erkenntnisse über die Entwicklungsdynamik und Plastizität des menschlichen Gehirns. In späterer Jugend und im Erwachsenenalter ist der Mensch in seinen Persönlichkeitsmerkmalen nur noch wenig veränderbar, es sei denn, er hat starke positive oder emotionale Erlebnisse. Personen suchen sich eher die Umwelten, die zu ihnen passen, als dass sie sich diesen Umwelten anpassen.

    6. Die unterschiedlichen Formen des Ich entwickeln sich in Zusammenhang mit der Hirnreifung aus vorgeburtlich und frühkindlich ablaufenden Prozessen. In seiner späten, selbst reflektierenden Form ist das Ich wesentlich von der Sprache und damit von der Gesellschaft bestimmt. Dieses Ich ist nicht der Steuermann, auch wenn es sich in charakteristischer Weise Wahrnehmungen, mentale Akte und Handlungen zuschreibt und die Existenz des Gehirns, seines Erzeugers leugnet. Vielmehr ist es virtueller Akteur in einer von unserem Gehirn konstruierten Welt, die wir als unsere Erlebniswelt erfahren.

    7. Sprache ist ein sozial vermitteltes Vermögen und dient nicht in erster Linie dem Austausch von Wissen und dem Vermitteln von Einsicht, sondern der Legitimation des überwiegend unbewusst gesteuerten Verhaltens vor uns selbst und vor anderen. Dies ist ein wichtiges Faktum individuellen emotionalen Überlebens und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sprachliche Kommunikation bewirkt nur dann Veränderungen in unseren Partnern, wenn diese sich aufgrund interner Prozesse der Bedeutungserzeugung durch nicht sprachliche Kommunikation mit uns bereits in einem konsensuellen Zustand befinden. Wissen kann nicht übertragen, sondern nur wechselseitig konstruiert werden.

    8. Unser bewusstes Ich hat nur begrenzte Einsicht in die eigentlichen Antriebe unseres Verhaltens. Die unbewussten Vorgänge in unserem Gehirn wirken stärker auf die bewussten ein als umgekehrt. Das bewusste Ich steht jedoch unter dem bereits genannten Erklärungs- und Rechtfertigungszwang. Dies führt zu den typischen Pseudoerklärungen eigenen Verhaltens, die aber gesellschaftlich akzeptiert werden. Das bewusste Ich ist nicht in der Lage, über Einsicht oder Willensentschluss seine emotional bewegenden Verhaltensstrukturen zu ändern; dies kann nur über emotional »bewegende« Interaktionen geschehen.

    9. Die subjektiv empfundene Freiheit des Wünschens, Planens und Wollens sowie des aktuellen Willensaktes ist eine Illusion. Der Mensch fühlt sich frei, wenn er tun kann, was er zuvor wollte. Unsere bewussten Wünsche, Absichten und unser Wille stehen aber unter Kontrolle des unbewussten Erfahrungsgedächtnisses. Wobei in komplexen Entscheidungssituationen der bewussten Analyse dessen, was »Sache ist«, eine große Bedeutung zukommt. Was aber letztendlich getan wird, entscheidet das limbische System. Das Gefühl des freien Willensaktes entsteht, nachdem limbische Strukturen und Funktionen bereits festgelegt haben, was zu tun ist. Wille und das Gefühl der subjektiven Willensfreiheit dienen der Selbst-Zuschreibung des Ich, ohne die eine komplexe Handlungsplanung nicht möglich ist.

    Diese Aussagen ergeben zusammen ein Menschenbild, das dem vorherrschenden, vernunft- und Ich zentrierten Menschenbild stark abweicht. Zugleich zeigen sich auch wichtige Unterschiede zu den genannten biologienahen Theorien. Entgegen Auffassungen des Behaviorismus ist der Mensch ganz wesentlich innen gesteuert. Der Behaviorismus ist jedoch korrekt in seiner Betonung von überwiegend unbewusst ablaufenden Konditionierungsvorgängen, die vor allem die emotionale Konditionierung betreffen. Entgegen den Auffassungen von Lorenz und Tinbergen spielen Instinkte im menschlichen Verhalten keine wichtige Rolle und wenn, dann sind sie durch Lernen und Erfahrung modifizierbar. Dasselbe gilt für den unterstellten »Gen-Egoismus« der Soziobiologie und der Verhaltensökologie. Richtig an diesen Ansätzen ist hingegen, dass wir Menschen viele Dinge tun, die im biologischen Sinne lebens- und überlebensfördernd sind, deren eigentliche Ziele wir aber nicht durchschauen oder akzeptieren und für die wir Pseudoerklärungen liefern.
    Die Theorie Sigmund Freuds wird in einer Reihe von Kernaussagen bestätigt, vor allem was die Dominanz des Unbewussten gegenüber dem Bewussten, die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen, die sehr beschränkten Möglichkeiten des Selbstverstehens und die Neigung des bewussten Ich zu Pseudoerklärungen und Konfabulationen betrifft. Skepsis ist angesagt gegenüber den von Freud und der Psychoanalyse gelieferten Erklärungen der primären Triebstruktur. Inwieweit der bedingte Therapieoptimismus der Psychoanalyse gerechtfertigt ist bzw. wie und wo eine Psychotherapie alternativ ansetzen müsste, muss in den kommenden Jahren intensiv diskutiert werden.
    Meine Frage nach den Determinanten menschlichen Verhaltens war eingegrenzt auf empirisch-experimentell untersuchbare Vorgänge und Faktoren, denn sonst hätte ich aus Sicht der Neurowissenschaften und der Handlungspsychologie nichts Begründetes dazu sagen können. Diese Eingrenzung ist keineswegs selbstverständlich, und in weiten Kreisen der Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften wird nach wie vor das Ansinnen der Neurowissenschaften, zu den Antrieben menschlichen Verhaltens etwas auszusagen, entschieden abgelehnt.
    Dies ist aus Sicht jener Wissenschaften verständlich, denn was man dort über das biologische Gedankengut zu dem genannten Thema bisher weiß, geht in aller Regel nicht über die Behauptung hinaus, dass »alles angeboren« bzw. »Erziehung zwecklos« sei. Bestenfalls handelt es sich um eine vereinfachte Fassung der Lorenzschen Instinkttheorie und der Soziobiologie. Natürlich wird von Seiten der Sozialwissenschaften zugegeben, dass der Mensch eine biologische Natur und entsprechende Bedürfnisse und ein Gehirn besitzt, das mit der Befriedigung dieser Bedürfnisse zu tun hat und »irgendwie« auch mit Wahrnehmung und Motorik, eventuell sogar mit Denken und Fühlen. Dies aber ist für die meisten Sozialwissenschaftler trivial und nicht relevant für die »eigentliche« Natur des Menschen, nämlich die gesellschaftliche.

    Ich hoffe, durch die vorgestellten Forschungsergebnisse das in
    den Sozial- und Kulturwissenschaften vorherrschende Bild der biologischen Sichtweise des Menschen korrigiert zu haben, Freilich stellt sich die Frage, ob der Mensch durch die hier vertretenen Auffassungen nicht doch zu einem bloßen »neuronalen Wesen« herabgewürdigt wird. Ich bin nicht dieser Meinung. Glaube aber, dass die Kenntnis der neurobiologischen Mechanismen unabdingbar ist, um unser Fühlen, Denken und Handeln zu verstehen. Ich will dies abschließend an drei Beispielen erläutern:

    Das erste Beispiel betrifft die Steuerung unserer Gefühle durch chemische Signalsubstanzen, d. h. Transmitter, Neuromodulatoren, Neuropeptide und Neurohormone. Mehr noch als das elektrophysiologische Geschehen in unserem Gehirn bestimmen sie unser Fühlen, Denken und Handeln; ein Ungleichgewicht dieses neuropharmakologischen »Haushalts« führt zu massiven Veränderungen unserer psychischen Befindlichkeit. Wie und wo unser Gefühlsleben auch immer bestimmt sein mag, es muss über die genannten neuroaktiven Substanzen vermittelt werden. Es ist deshalb verfehlt, diesen Umstand als »unspezifische
    Voraussetzung« unserer ansonsten gesellschaftlich bedingten seelischen Vorgänge anzusehen.
    Natürlich muss hier die Frage gestellt werden, was an einem Dopamin-Molekül antreibend ist, an einem Serotonin-Molekül beruhigend und an einem Noradrenalin-Molekül aufregend. Nichts - heißt die schlichte Antwort. Diese Moleküle wirken nicht rein chemisch, sondern - wie man zu Recht sagt – als Boten-Stoffe, als Überbringer von Bedeutungen. Sie werden von bestimmten Zentren des Gehirns, die eine bestimmte Funktion ausüben, z. B. die der »Voraussage« von Belohnung, zu anderen Zentren geschickt, wo sie nach dem Ankoppeln an spezifische Rezeptoren bestimmte Abläufe auslösen oder beeinflussen z. B. die Auswahl zwischen verschiedenen Handlungen. Das Einwirken von Dopamin aus der Substantia nigra auf D2- Rezeptoren im dorsalen Striatum könnte somit bedeuten: »Tu dies, denn es verspricht eine Belohnung!« Entsprechend wird die Schleife »freigeschaltet« und eine bestimmte Handlung wird ausgeführt, die eine Belohnung erwarten lässt.
    Diese Bedeutung hat das Dopamin nicht allein über die Funktion der Substantia nigra, denn diese ist selbst nur eine aus vielen Neuronen bestehende Hirnstruktur. Ihre Funktion und damit Bedeutung erlangt die Substantia nigra dadurch, dass sie in spezifischer Weise mit anderen Hirnstrukturen zusammenhängt, z. B. im Gedächtnis oder der Amygdala, die ihr zuarbeiten, und denen sie umgekehrt zuarbeitet. So weisen sich Hirnstrukturen gegenseitig ihre Funktionen und Bedeutungen zu, und zwar über ihre interne Struktur, die Antworteigenschaften ihrer Neurone, ihre neuropharmakologische Ausrüstung und das Verknüpfungsmuster mit anderen Hirnstrukturen und schließlich über die Weise, wie einige von ihnen mit der Umwelt interagieren und andere über das Verhalten auf diese Umwelt einwirken.

    Ein zweites Beispiel ist die Parallelität der Entwicklung des Gehirns und der Persönlichkeit. Wie wir gehört haben, beginnt die Ausbildung der Persönlichkeit bereits in den ersten Wochen der Embryonalentwicklung mit dem Entstehen der Strukturen, die unsere affektive Grundausrüstung hervorbringen. Noch während der Embryonalentwicklung entsteht die zweite Schicht des limbischen Systems, die das Gehirn empfänglich macht für konditionierende Prozesse. Die Geburt und die Erlebnisse der ersten Stunden, Tage, Wochen und Monate danach wirken als Umweltreize zutiefst auf diese Konditionierungsebene ein und formen dadurch das Grundgerüst unserer Persönlichkeit. Dies wird auf neuronaler Ebene ermöglicht durch eine überbordende Überproduktion und anschließende, von »neuronalem Wettkampf« geleitete, dramatische Reduktion von Neuronen und Synapsen, gefolgt von Dendritenwachstum. Das sich entwickelnde Gehirn saugt förmlich die Einwirkungen der (engeren) Umwelt in sich auf.
    Erst spät setzt die Entwicklung dessen ein, was die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften als den eigentlichen Menschen ansehen. Diejenigen Hirnteile, deren Aktivität unser gesellschaftliches Handeln, d. h. den Umgang mit unseren Mitmenschen, das Abschätzen der Folgen unseres Verhaltens sowie moralische und ethische Erwägungen bestimmen, entwickeln sich z. T. erst während und nach der Pubertät. Aufgrund dieser Vorgänge werden zwar nicht mehr die Grundstrukturen unserer Persönlichkeit verändert, aber wir lernen, unsere Bedürfnisse und Handlungsantriebe den gesellschaftlichen Verhältnissen so anzupassen, dass sie eine weitgehende Verwirklichung unserer Wünsche und Pläne bei minimalen sozialen Konflikten ergibt. Menschen können aus eigenen Kräften ihre Persönlichkeitsstruktur nicht ändern, aber sie können aus eigenen Kräften dafür sorgen, dass ihre Persönlichkeit sich möglichst gut mit den sozialen Gegebenheiten verträgt.
    Die Tatsache, dass die Persönlichkeit sich sehr früh ausbildet, legt nicht automatisch fest, wie die Lernfähigkeit im späteren Erwachsenendasein und insbesondere im höheren Alter aussieht. Diese Lernfähigkeit betrifft vornehmlich die Plastizität oder Rigidität des deklarativen cortico-hippocampalen Systems und hat mit unserer Persönlichkeitsstruktur wenig zu tun. Wir verändern uns in unserer Persönlichkeit nicht dadurch, dass wir mit fünfzig Jahren noch einen neuen Beruf und mit siebzig Jahren noch eine Fremdsprache lernen, sondern die Tatsache, dass wir dies tun, resultiert aus einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur.

    Das dritte Beispiel ist das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft.
    Aus den in diesem Buch vorgestellten Erkenntnissen der Neuro- und Kognitionswissenschaften ergibt sich ein eindeutiges Plädoyer für einen Individualismus, d. h. für die Sicht, dass es eher die Menschen mit ihren in früher Jugend erworbenen Persönlichkeitsstrukturen sind, welche die Gesellschaft bestimmen, und weniger die gesellschaftlichen Strukturen, welche die Persönlichkeit der Menschen bestimmen, die in ihr leben. Ich behaupte, dass die Schnelligkeit oder Langsamkeit, mit der sich ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht, weitgehend von den emotionalen und kognitiven Fähigkeiten und Beschränktheiten der Individuen bestimmt ist und nicht von den gesellschaftlichen Institutionen, die ohne die sie tragenden Personen Abstracta sind. Dieses Thema bedarf jedoch einer genauen, interdisziplinär geführten Erörterung.

    Ich verzichte bewusst darauf, am Ende dieses Buches die möglichen Konsequenzen zu erörtern, die sich aus dem, was ich gesagt habe, für den privaten Umgang von Menschen miteinander, für das gesellschaftliche Leben, das Erziehungssystem und auch für unser Rechtssystem zum Beispiel im Zusammenhang mit der persönlichen Willensfreiheit und einer persönlichen Verantwortung für das eigene Tun ergeben. Dies würde einem interdisziplinären Diskurs vorgreifen, den ich mit diesem Buch erst eröffnen will.



  • RE: Fühlen, Denken, Handeln


    Es mag ja scheinen das ich viel Zeit habe. Aber das heißt nicht, dass ich lust habe mir Seitenweise Zitate aus Leerbüchern durch zulesen.

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