Moralentwicklung
Es ist wichtig, dass man über die ganze Lebensspanne hinweg enge soziale Beziehungen entwickelt. Wir wollen uns jetzt mit einem weiteren psychologischen Aspekt des Zusammenlebens von Menschen beschäftigen. Es geht um einen Konflikt, den bereits jedes Kind kennenlernt und den Sie selbst wahrscheinlich auch immer wieder erfahren: den Konflikt zwischen den auf die Erfüllung eigener Bedürfnisse gerichteten egoistischen Motiven und den moralischen Normen und Werten, die die Bedürfnisse anderer Menschen und der Gemeinschaft schützen sollen. Im Laufe der Sozialisation unternehmen Eltern, Lehrer und Erzieher, aber auch die Gesellschaft als Ganzes immer wieder enorme Anstrengungen, um den Heranwachsenden das geltende System von Normen und Werten nahe zubringen.
Moralpsychologie versucht nicht, derartige Regeln aufzustellen oder zu begründen. Die Begründung ist das Feld der Moralphilosophie. Dennoch haben Psychologen bei dem Versuch, Moralentwicklung theoretisch zu fassen, immer wieder bei der Philosophie Anleihen gemacht. Das gilt auch für Lawrence Kohlberg, dessen Theorie des moralischen Urteilens wir als erste vorstellen.
Moralisches Urteilen
Kohlbergs Stufen des moralischen Urteilens, nach Kohlberg 1964, 1981, 1996
Begründung für moralisches Handeln (Einhaltung von Normen)
Niveau I: Präkonventionelle Moral
Stufe l: Orientierung an Belohnung und Bestrafung.
Befolgen von Verlangen der Autoritäten
Stufe 2: Kosten-Nutzen- Orientierung; Reziprozität (Auge um Auge).
Befriedigung der eigenen Bedürfnisse, evtl. im Austausch mit anderen
Niveau II: Konventionelle Moral
Stufe 3: Orientierung an wechselseitigen Erwartungen und Beziehungen.
Anerkennung gewinnen; Kritik vermeiden
Stufe 4: Orientierung an sozialem System und Gewissen.
Den Regeln gehorchen; den gesellschaftlichen Nutzen beachten.
Niveau III: Postkonventionelle (prinzipiengeleitete) Moral
Stufe 5: Orientierung am sozialen Vertrag und gesellschaftlicher Nützlichkeit.
Relativierung gesellschaftlicher Regeln unter dem Aspekt der Nützlichkeit für übergeordnete Prinzipien.
Stufe 6: Orientierung an ethischen Prinzipien.
Befolgen von selbst gewählten ethischen Prinzipien.
Zusammenhang zwischen moralischem Urteil und soziomoralischer Perspektive:
1. Präkonventionelle Moral: Individualistische, nur auf die eigenen Vor- und Nachteile ausgerichtete Perspektive.
2. Konventionelle Moral: Perspektive des Mitglieds der Gesellschaft
3. Postkonventionelle Moral: Der Gesellschaft vorgeordnete, prinzipiengeleitete Perspektive
Gegenstand von Kohlbergs Psychologie der Moralentwicklung ist ausdrücklich nicht das moralische Handeln, sondern das moralische Urteilen (oder Argumentieren). Es geht also um die Frage, wie Menschen vorgestellte oder tatsächliche Handlungen unter dem Gesichtspunkt von gut oder böse (moralisch richtig oder moralisch falsch) beurteilen. Kohlbergs Theorie knüpft an Überlegungen und Beobachtungen zur Moralentwicklung von Jean Piaget an. Piaget (1983) hatte u. a. versucht, die Entwicklung des moralischen Urteils mit der allgemeinen kognitiven Entwicklung eines Kindes zu verbinden. Beispielsweise bewerten Kinder je nach kognitiver Entwicklungsstufe die Folgen einer Handlung und die Absichten des Handelnden unterschiedlich. Nach Piagets Auffassung ordnet das Kind im Laufe der Zeit, wenn es die Stufen der kognitiven Entwicklung durchläuft, den Konsequenzen einer Handlung und den Intentionen des Handelnden unterschiedliche relative Gewichte zu. Für das präoperationale Kind beispielsweise ist jemand, der zehn Tassen unabsichtlich zerbricht, unartiger oder böser als jemand, der absichtlich eine Tasse zerbricht. Kinder auf der konkret operationalen Stufe hingegen messen den Intentionen des Handelnden ein größeres Gewicht bei. Im Beispiel ist also das Kind unartiger, das zwar nur eine Tasse, diese aber absichtlich zerbrochen hat.
- Auf dem präkonventionellen Niveau werden moralische Fragen unter dem Gesichtspunkt des individuellen Nutzens beurteilt. Ein Kind im Vorschulalter hält sich z. B. an die Norm, einem anderen Kind nichts wegzunehmen, weil es sonst bestraft würde. Oder es teilt Spielsachen mit einem anderen Kind, weil es hofft, bei der nächsten Gelegenheit ebenfalls etwas abzubekommen.
- Auf dem konventionellen Niveau werden moralische Angelegenheiten danach beurteilt, inwieweit die Verletzung oder Einhaltung von Normen für das Zusammenleben der Menschen unverzichtbar ist. Beispielsweise muss man Versprechen halten, weil Menschen einander sonst nicht vertrauen können. Oder man muss sich an das Gesetz »Du sollst nicht stehlen« halten, weil dieses Gesetz den Mitgliedern der Gesellschaft die Unversehrtheit des Eigentums garantiert.
- Auf dem postkonventionellen Niveau wird bei moralischen Urteilen eine der Gesellschaft vor geordnete soziomoralische Perspektive eingenommen. Die Person hat nun individuelle moralische Prinzipien entwickelt, woran sie nicht nur ihr eigenes Handeln misst, sondern auch beurteilt, ob Gesetze für sie Gültigkeit haben.
Um zu erfassen, auf welcher Entwicklungsstufe sich eine Person befindet, entwickelte Kohlberg die Methode des moralischen Dilemmas. Bei der Dilemmamethode wird dem Versuchsteilnehmer ein Szenario geschildert, bei dem sich ein Protagonist in einer »moralischen Zwickmühle« befindet: Wie auch immer er sich entscheidet, er wird ein moralisches Prinzip zugunsten eines anderen verletzen. Wie der Teilnehmer dieses Dilemma beurteilt, wird in einem ausführlichen halbstandardisierten Interview erfragt.
In einem von Kohlbergs Dilemmata versucht ein Mann namens Heinz für seine todkranke Frau an das einzige Medikament zu kommen, mit dem ihr Krebsleiden Erfolg versprechend behandelt werden kann. Um das Mittel zu erhalten muss er aber den zehnfachen Preis dessen, zahlen was es an unerreichbarer Stelle kostet. Viel mehr Geld, als Heinz sich beschaffen kann. Heinz ist verzweifelt, begeht einen Einbruch und stiehlt das Medikament für seine Frau. Durfte er dies tun? Wenn ja, warum? Hätte er auch einbrechen sollen, wenn er seine Frau nicht geliebt hätte? Mit diesen und vielen weiteren Fragen versucht der Interviewer Einzelheiten des individuellen moralischen Urteils zu erfassen.
Für die detaillierte Bewertung der Antworten und die anschließende Einordnung der Person auf den Entwicklungsstufen ist es unerheblich, wie die Person anstelle von Heinz entschieden hätte. Beispielsweise ist es unerheblich, ob sie für oder gegen den Einbruch ist. Worauf es ankommt, sind die Gründe, die dafür genannt werden. Nehmen wir beispielsweise eine Person, die sagt, dass der Mann das Medikament stehlen sollte, weil er seiner Frau gegenüber dazu verpflichtet ist, und nehmen wir eine zweite Person, die die Meinung vertritt, dass er das Medikament nicht stehlen sollte, weil er trotz seiner persönlichen Gefühle den Gesetzen der Gesellschaft verpflichtet ist.
Beide Personen bringen zum Ausdruck, dass sie sich an eingegangenen Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen oder den Gesetzen orientieren, und werden deshalb auf der konventionellen Niveau eingestuft.
Für Kohlbergs Entwicklungsstufen gelten 4 allgmeine Prinzipien:
- Jede Person kann sich zu einer bestimmten Zeit nur auf einer der Stufen befinden.
- Jede Person durchläuft diese Stufen der Reihe nach.
- Jede nachfolgende Stufe ist umfassender und komplexer als die vorhergehende.
- Es gibt diese Stufen in allen Kulturen, sie sind, mit anderen Worten, universell gültig.
Kohlberg übernahm diese Stufenmerkmale großenteils von Piaget, und in der Tat hängt das Fortschreiten den ersten 3 Entwicklungsstufen anscheinend mit dem Ablauf der normalen kognitiven Entwicklung zusammen. Die Stufen werden in dieser Reihenfolge durchlaufen, und jede einzelne kann als kognitiv anspruchsvoller als die vorhergehende betrachtet werden.
Nahezu Kinder erreichen Stufe 3 im Alter von 13 Jahren.
Wenn Kohlbergs Theorie kontrovers diskutiert wird, so geht es im wesentlichen um die Entwicklung nach der dritten Stufe. Lassen Sie uns sehen, warum dies der Fall ist.
Moralisches Urteilen bei jugendlichen und Erwachsenen
Ursprünglich hatte Kohlberg angenommen, dass die Entwicklung des moralischen Urteilens stetig fortschreitet. Nicht alle Menschen erreichen jedoch die Stufen 4 bis 6. Tatsächlich gelangen viele Erwachsene nie bis zur Stufe 5, und nur ganz wenige kommen noch weiter. Zudem findet man die höheren Stufen nicht in allen Kulturen, und in westlichen Gesellschaften scheinen sie mit besserer Ausbildung und ausgeprägteren verbalen Fähigkeiten einherzugehen. Ausbildung und sprachliche Gewandtheit sollten aber keine Grundvoraussetzung moralischen Handelns sein (Rest u. Thomas 1976).
Nicht zuletzt, weil es Kohlberg nicht gelungen ist, korrekte Voraussagen über die Moralentwicklung im Jugend- und Erwachsenenalter zu treffen, ist seine Theorie auf zunehmende Skepsis gestoßen. Unter anderem wird der Inhalt der Stufen kritisiert. Er scheint subjektiv gefärbt zu sein, und es ist schwer, jede der auf einander folgenden Stufen als etwas Umfassenderes und Anspruchsvolleres als die vorangehende Stufe zu begreifen.
Befolgen von selbst gewählten ethischen Prinzipien« ist beispielsweise die Grundlage für die moralischen Urteile auf Stufe 6, und dies scheint nicht von vornherein etwas Anspruchsvolleres zu sein, als die Relativierung der gesellschaftlichen Regeln unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für übergeordnete Prinzipien, der Grundlage für Stufe 5.
Kohlbergs höhere Stufen sind auch kritisiert worden, weil sie nicht der Tatsache gerecht werden, dass moralische Urteile bei Erwachsenen auf sehr unterschiedlichen Prinzipien beruhen können. In einer bekannten Kritik hat Carol Gilligan (1982) darauf hingewiesen, dass Kohlbergs ursprüngliche Vorstellungen nur aufgrund von Beobachtungen an Jungen entwickelt wurden. Sie argumentierte, dass bei diesem Forschungsansatz mögliche Unterschiede zwischen den Prinzipien des moralischen Urteilens von Männern und Frauen übersehen würden.
Gilligans Überlegungen erweitern fraglos Kohlbergs Theorie, aber es ist zweifelhaft, ob ihre These von den zwei »Moralen« einer weiblichen Moral der Fürsorge, und einer männlichen Moral der Gerechtigkeit, der empirischen Überprüfung standhält.
Lassen Sie uns deshalb einen genaueren Blick auf die Befunde werfen.
Einige Untersuchungen zeigten in der Tat, dass Frauen beim moralischen Argumentieren von der Erwägung geleitet werden, Harmonie in den sozialen Beziehungen aufrechtzuerhalten, während Männer eher auf Fairness Bezug nehmen (Lyons 1983). Dennoch wird weiterhin darüber diskutiert, ob Geschlechtsunterschiede im moralischen Urteil überhaupt vorhanden sind (Baumrind 1986; Pratt et al. 1988; Walker 1984, 1986). Obwohl Männer und Frauen möglicherweise auf verschiedenen Wegen zum moralischen Urteilssystem gelangen, das sie als Erwachsene auszeichnet, ähneln sich ihre Urteile in hohem Maße (Boldizar et al. 1989). Vielleicht läßt sich der Widerspruch lösen, wenn man berücksichtigt, dass Männer und Frauen moralische Urteile in verschiedenen Situationen zu fällen haben, weil sie sich in unserer Kultur immer noch in verschiedenen Lebenswelten bewegen. Werden Männer und Frauen aber gebeten, über dieselben moralischen Dilemmata zu urteilen, dann zeigen sie hinsichtlich der Gesichtspunkte Fürsorge und Gerechtigkeit sehr ähnliche Reaktionsmuster (Clopton u. Sorell 1993).
Auch bei Untersuchungen zum prosozialen und moralischen Handeln wurden keine eindeutigen Geschlechtsdifferenzen gefunden (Eisenberg u. Mussen 1989; Radke-Yarrow et al. 1983).
In anderer Hinsicht hat sich aber ein Entwicklungstrend gezeigt. Je älter Erwachsene werden, um so mehr neigen sie dazu, nicht auf die Einzelheiten spezieller Situationen, sondern auf allgemeine Prinzipien zu schauen.
Folgerichtig entwickeln sich auch moralische Urteile, die eher auf allgemeinen gesellschaftlichen Anliegen beruhen, also etwa der Frage: Was schreibt das Gesetz vor?, als auf den besonderen Merkmalen einer Dilemmasituation, etwa: Sollte ... in diesem Fall eine Ausnahme gemacht werden? (Pratt et al. 1988).
Lassen Sie uns nun vom moralischen Urteilen zum moralischen Handeln übergehen.
Moralisches Handeln
Will man die moralische Entwicklung umfassend verstehen, darf man nicht beim Urteilen und Argumentieren stehen bleiben. Man muss auch darüber nachdenken, was Menschen dazu motiviert, ehrlich, kooperativ oder altruistisch zu handeln. Wie Sie aus der Alltagserfahrung wissen, haben Reden und Handeln oftmals wenig miteinander zu tun. Die Lücke zwischen moralischem Wissen und moralischem Handeln ist speziell für den Fall der Ehrlichkeit erstmals in einer mittlerweile klassischen Studie aus den 20er Jahren nachgewiesen worden.
In jüngster Zeit hat der Psychologe M. Hoffman die emotionalen und sozialen Wurzeln der Entwicklung des moralischen Handelns untersucht. Er vertritt den Standpunkt, dass schon relativ früh in der Kindheit Emotionen, vor allem Empathie (Einfühlungsvermögen), die Motivation für moralisches Handeln darstellen können. Empathie ist die Voraussetzung dafür, dass man die Gefühle anderer Menschen nachempfindet. Kleine Kinder sind zu positiven sozialen Verhaltensweisen fähig, die darauf ausgerichtet sind, anderen Menschen in bedrückenden Situationen Hilfe und Trost zu spenden.
Zunächst empfinden Kinder die Belastung nach, und dann sorgen sie sich um die andere Person. Sie wollen vielleicht zunächst die nachempfundenen unangenehmen Gefühle reduzieren und entdecken dann, dass dieses Ziel erreicht werden kann, wenn sie sich positiv gegenüber der bedrückten Person verhalten. Beobachtungsstudien haben gezeigt, dass Kinder bereits in sehr frühem Alter Empathie erleben, und einige Wissenschaftler glauben, dass es sich dabei eigentlich sogar um eine angeborene Reaktion handelt, vergleichbar dem Saugen und Weinen.
Empathie kann also ein früher Baustein für den Aufbau zukünftigen moralischen Handelns sein.
Moralisches Handeln und moralisches Wissen sind 2 Paar Stiefel
Hartshorne u. May gingen in einer 1928 veröffentlichten Studie der Frage nach dem Zusammenhang von moralischem Wissen und Handeln bei Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren nach. Einer großen Zahl von Kindern legten sie Tests zum moralischen Wissen vor und beobachteten Situationen, in denen sie sich ehrlich und unehrlich verhalten konnten. Die Ergebnisse überraschten. Die meisten Kinder waren in manchen Situationen ehrlich, in anderen aber unehrlich. Statt einer allgemeinen Eigenschaft der Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit zu folgen, schien das Handeln mehr von der Situation abzuhängen, z. B. davon, wie verlockend die Belohnung war und für wie wahrscheinlich es die Kinder hielten, dass sie ertappt wurden. Auch gab es nur einen geringen Zusammenhang zwischen moralischem Handeln und moralischem Wissen. Es gab schließlich auch keine Hinweise darauf, dass Wissen und Handeln im untersuchten Altersbereich zunehmen würden. Hartshorne u. May schlossen daraus, dass zwar das moralische Wissen eine feste, in den Menschen verankerte Größe ist, moralisches Handeln aber aus speziellen Reaktionen besteht und von den Erfordernissen der jeweiligen Situationen abhängt (Hartshorne u. May 1928).
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