Wahrnehmungsstörung und ADS/HS

[eumelinchen]

Mein Sohn bekommt Ergotherapie, weil er lange nicht malen und schreiben konnte und seine Feinmotorik schwer zu schulen war. Die Ergotherapeutin sagt, es sei eine Wahrnehmungsstörung. Ist ADS eine Wahrnehmungsstörung?
Stimmt es, daß viele Kinder, die an ADHS leiden später im Erwachsenenalter auch Verhalten einer Borderline-Störung annehmen?
Wenn die Diagnostik nur über das Ausschlußverfahren funktioniert, ist ADS dann eher eine Verlegenheitsdiagnose?
Nicht nur bei meinem Sohn, auch bei mir gibt es die Angst vor sozialer Ausgrenzung durch solche Diagnosen.
Gibt es ein ausführliches Fachbuch dazu?

[Beate Ullmann]

Re: Wahrnehmungsstörung und ADS/HS


(::I) Jetzt habe ich eine ellenlangen Beitrag geschrieben und dann abgeschickt und weil es so lange gedauert hat, war ich raus geflogen, der Beitrag weg (::I)

Also auf ein Neues:

Liebes Eumelinchen,
Erst mal nicht verrückt machen. Hat die Ergotherapeutin das Wort ADS gebraucht oder sprach sie nur von Wahrnehmungsstörungen? Wie alt ist Dein Sohn denn?

Ich möchte Dir von Tobi erzählen. Bei Tobi fiel mit etwa drei Jahren auf, dass er sich konsequent weigerte zu malen oder auch nur einen Stift zur Hand zu nehmen. Ich hatte ja schon eine Tochter und fand das total ungewöhnlich. Also bin ich zu der Erzieherin und habe mit ihr gesprochen, ihr war -noch- nichts aufgefallen, sie konnte später aber meine Beobachtung bestätigen. Also gingen wir zur Diagnosestellung zur Ergotherapeutin. Die stellte also massive Wahrnehmungsstörungen fest.

Kurz und knapp: Tobi empfindet keinen Schmerz, hat keinerlei taktiles Empfinden (er spürt den Stift in der Hand nicht), er friert nicht. Aber er kompensierte dieses Defiziet durch Reden und war allgemein recht lebhaft. Später war es dann so, dass die Lehrer immer wieder forderten, Tobi müsse Ritalin bekommen (so eine Forderung steht einem Lehrer in keinster Weise zu). Wir haben die ganze ADS Diagnostik durchlaufen. Mittlerweile stehe ich auf dem Standpunkt, dass ADS eine absolute Modediagnose ist. Alle Kinder, die schwierig sind, laufen unter ADS. Darunter müssen natürlich die Kinder leiden, die wirklich unter ADS leiden.

Ganz zum Schluss des ganzen ADS Procedere landeten wir bei einer Kinder-und Jugendpsychiaterin. Sie hat uns dann bestätigt, dass Tobi nicht unter ADS leidet, sondern wirklich "nur" diese taktile Wahrnehmungsstörung hat. Diese allerdings ist recht ausgeprägt und auch in erster Linie für eine Mutter belastend. Tobi hatte zu Anfang in der Schule starke Probleme. Nicht jedem Lehrer war einsichtig, warum das Kind so schlecht schrieb. Hier waren sehr viele Gespräche notwendig. Allerdings haben wir sonst versucht, das Problem mit Außenstehenden und auch Tobi gegenüber möglichst wenig zu thematisieren. Wir wollten auf jeden Fall verhindern, dass das Kind in die Exotenecke gestellt wird. Heute im Nachhinein muss ich sagen, das ist uns ganz gut gelungen. Tobi war immer ein ausgesprochen fröhliches und ausgeglichenes Kind.

Als erstes muss man sagen, die Kinder können einem ja nicht sagen, wo das Problem liegt, sie vermissen ja nichts. Sie kennen es einfach nicht anders und sie lernen relativ schnell. Tobis Schwester hatte lange, dichte Haare. Morgens beim Kämmen heulte sie also regelmäßig. Daraus zog Tobi den Schluss, es gehört zum Kämmen dazu, dass man heult. Also machte er das auch ausgiebig. Er lernte schon sehr früh, so zu reagieren, wie man es von ihm erwartete. Sein Defizit fiel also immer erst auf den zweiten oder dritten Blick auf. Wenn jemand was von ihm wollte, was er nicht leisten konnte, dann fing er an zu diskutieren. Oftmals vergaß der andere dann, was er eigentlich wollte.

Durch die Schreibproblematik konnte Tobi erst mal nur die Hauptschule besuchen. (Zu Anfang sah es aus, als könnte er nie eine Regelschule besuchen) Mittlerweile ist er im bayerischen M-Zug, wird also bald seinen Realschulabschluss machen. Außerdem macht ihm inzwischen die Schule soviel Spaß, dass er weiter auf die FOS gehen möchte, um sein Abitur zu machen. Ja Tobias ist mittlerweile 16 Jahre alt. Er hat sehr viel mehr lernen müssen, als andere Kinder. Dinge, die andere ganz selbstverständlich können, musste er halt erlernen.

Heute ist er ein ausgesprochen reifer, freundlicher Teenager. Ich denke, wir alle haben unsere Sache ganz gut gemacht. Ich weiß heute, dass Tobi seinen Weg gehen wird und alle Mehrarbeit sich gelohnt hat.

Ich würde Dir raten, den Diagnoseweg für ADS zu gehen. Sollte es sich bestätigen, dann kannst Du Deinem Kind helfen lassen. Sollte es sich nicht bestätigen, kannst Du Deinem Kind auch helfen und alle Kritiker kalt stellen. Aber wenn ich ehrlich bin, hört es sich bei Euch schon so ähnlich an, wie bei uns.

Also Kopf hoch, Ihr kriegt das hin

Liebe Grüße
Beate

[eumelinchen]

Re: Wahrnehmungsstörung und ADS/HS


Liebe Beate,

Du glaubst gar nicht, wie glücklich Du mich mit Deiner Antwort gemacht hast. Ich habe so viele Ähnlichkeiten wiedererkannt. Insbesondere das Problem mit der Schmerzempfindung fiel mir dabei auf. Ole ist als Kind oft hingefallen und hat sich gestoßen und hat trotzdem nur selten geweint und wenn Ole mal wirklich schreit , wenn ihm etwas schmerzt, dann bin ich auch immer schnell alarmiert, weil ich genau wußte, daß es schon sehr schwer wehtun mußte, damit er weint. Eine eingeschränkte Schmerzempfindung würde zumindest erklären, warum er es manchmal auch nicht merkt, wenn er sich stößt.
Danke, danke, danke, danke,.... für Deinen langen geduldigen Brief.

eumelinchen

[Beate Ullmann]

Re: Wahrnehmungsstörung und ADS/HS


Liebes Eumelinchen,
schön, dass ich Dir helfen konnte. Aber sag mal, wie alt ist Ole denn? Wenn Du mal jemanden zum Reden brauchst, weißt Du ja, wo ich bin ;-)

Liebe Grüße
Beate