"Ein Bild von einer Frau?"
Ergebnis der Wiener Enquete zu Magersucht und Bulimie: Alleine in Wien jährlich 80 bis 140 Neuerkrankungen
Die Waage als Parameter für "Schönheit" und Selbstwertgefühl: Fast jedes zweite Mädchen experimentiert mit Diäten.
Wien - Die dritte Wiener Enquete zum Thema Essstörungen, die am Montag im Wiener Rathaus stattgefunden hat, stand unter dem Titel "Ein Bild von einer Frau?". Mit diesem Thema wollten die VeranstalterInnen auf den "Medien-Schönheitskult und dessen Auswirkungen" hinweisen. Weit über 300 österreichische und internationale ExpertInnen folgten der Einladung von "dieSie", dem Wiener Programm für Frauengesundheit unter der Leitung von Prof.in Beate Wimmer-Puchinger.
90 Prozent der Betroffenen sind Mädchen und junge Frauen
Das Wiener Frauengesundheitsprogramm nimmt sich dem Thema Essstörungen in besonderem Maße an, da nach Schätzungen von Prof. Andreas Karawauz, Leiter der Spezialambulanz für Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen am AKH-Wien, jährlich 80-140 Neuerkrankungen an Anorexie und 280 Neuerkrankungen an Bulimie bei jungen Frauen im engen pathologischen Sinn alleine in Wien zu verzeichnen sind.
Auslösende Faktoren
Gesundheitsstadträtin Dr.in Elisabeth Pittermann zu den erschreckenden Zahlen: "Als Auslöser gelten neben Krisen des Erwachsenwerdens, Selbstabwertung oder Unzufriedenheit mit sich selbst auch die ständige Konfrontation mit superschlanken, oft sogar magersüchtigen Modells in den Medien. Die gesundheitlichen Folgen sind langfristig und gravierend. Neben dem Ausbleiben der Menstruation, Zahnschäden, dem Absinken von Puls, Blutdruck und Körpertemperatur kann es zu Speiseröhreneinrissen, Magenwand- und Nierenschäden kommen." Auch die Wiener Frauengesundheitsbeauftragte, Prof.in Wimmer-Puchinger sieht einen Auslöser für Essstörungen in der Medienwelt: "Die dichte Informationsflut einer Bilderwelt von Mode und Models, die im medizinisch eindeutigen Bereich der Untergewichtigkeit liegen, bleibt nicht ohne Folgen. Fast jedes zweite Mädchen im zarten Alter von dreizehn Jahren experimentiert mit Diäten, misst ihr Selbstwertgefühl mit der Waage und ist mit ihrem Aussehen unzufrieden. Das Risiko für Magersucht und Bulimie steigt. Es ist daher eine Grenze erreicht, wo wir uns aus gesundheitlicher und frauenspezifischer Sicht gegen diese "hungrige Bilderwelt" wehren müssen. Sie dezimiert das Selbstwertgefühl und die Gesundheit unserer Töchter."
40 Prozent der Mädchen haben Angst zuzunehmen
Laut einer repräsentativen Studie an 1.600 SchülerInnen, durchgeführt vom AKH und dem Ludwig Bolzmann Institut für Frauenforschung sind 2.078 Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren und 98 Burschen der klinischen oder subklinischen Risikogruppe von Bulimie und Anorexie zuzurechnen. Diese Zahlen bestätigen für Wien auch internationale Trends. Weiters gaben mehr als jedes zweite Mädchen und einer von zehn Burschen an, schon einmal eine Diät gemacht zu haben, ohne dass ein Übergewicht vorlag.
Schon 30-jährige Frauen mit Osteoporose-Anzeichen
Absichtlich erbrochen haben 15,4 Prozent der Mädchen, 1,6 Prozent der Burschen. Abführmittel genommen haben 9 Prozent der Mädchen und 0,8 Prozent der Burschen. Entwässerungstabletten nehmen 3 Prozent der Mädchen und 24 Stunden Essensstopp probieren 3 Prozent der Mädchen um ihr "Idealgewicht" zu erreichen. Die gesundheitlichen Auswirkungen sind gravierend. So schlagen InternistInnen, ZahnärztInnen und GynäkologInnen in internationalen Fachzeitschriften Alarm, da es durch die Mangelernährung zu hormonellen Veränderungen bereits in der Pubertät kommt, 30-jährige Frauen schon Osteoporose-Anzeichen haben und Zähne massiv geschädigt werden, sowie natürlich auch der Magen-Darm-Trakt. Dazu kommen massive Herz-Kreislauf-Beschwerden, Konzentrationsschwäche, Leistungsabfall und Depressionen.
Präventionsmaßnahmen in Wien
Das Wiener Programm für Frauengesundheit, "dieSie" hat neben einer Essstörungshotline ab nun auch Email-Beratung (siehe Kasten) durch Expertinnen installiert. Seit 1998 rufen täglich 10 bis 15 Personen an, um sich anonym beraten zu lassen. Eine statistische Auswertung von 9.100 AnruferInnen zeigt: 90 Prozent der AnruferInnen sind weiblich, mehr als 2/3 der AnruferInnen sind direkt von einer Essstörung betroffen, 1/3 sind Angehörige, das Durchschnittsalter ist 25 Jahre.
Altersverschiebung
Bei den AnruferInnen zeigt sich, dass neuerdings auch Frauen zwischen 40 und 50 Jahren durch den Schlankheitsdruck in eine Essstörung rutschen. Um den Bereich der Prävention und der stationären Akutbehandlung und Nachbetreuung besser zu vernetzen wurde eine Plattform aufgebaut, in die alle relevanten Institutionen, die auf diesem Gebiet arbeiten, eingebunden sind.
Schlankheits-Propaganda
WissenschafterInnen der verschiedenen Disziplinen (Medizin, Psychotherapie, Frauenforschung, Familienforschung) warnten im Rahmen der dritten Wiener Essstörungsenquete vor den Folgen einer unkontrollierten und einseitigen Propagierung überschlanker weiblicher Vorbilder sowie andererseits den Auswirkungen der Propagierung einer stromlinienförmigen Figur durch die Schönheitschirurgie. Wie eine Studie von Prof. Becker aus Harvard nachwies, wirkt sich der Schlankheitskult sogar auf die weibliche Bevölkerung der Fiji-Inseln aus. In dem Ausmaß, in dem mehr westliche Schönheitsideale durch das Fernsehen propagiert werden, nehmen Magersucht und Bulimie auf dem Inselstaat zu.
Mütterlicher Einfluss
Prof.in Susie Orbach, Mitbegründerin des Frauentherapiezentrums in London und New York betonte in ihrer Rede, dass bereits der Einfluss von Müttern auf das Essverhalten von Babys eine wichtige Rolle spiele. So finden unter dem Eindruck werblicher Botschaften der Massenmedien immer mehr Frauen ihre Kinder "zu dick", wodurch spätere Essstörungen gefördert würden. (red)
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