Alzheimer/Aggressionen

[Kerstin2567]

Mein Schwiegervater leidet unter Alzheimer. Derzeit reagiert er äußerst aggressiv und wütend auf seine Kinder und z. B. seine Schwester. Er war immer ein sehr freundlicher und aggressionsfreier Mensch. Jetzt beschimpft er sie, wenn sie nur am Telefon sind. Er ist noch in der Lage zu telefonieren und hat auch schon eine Tochter angerufen und sie so lange grundlos beschimpft, bis sie verzweifelt und weinend aufgelegt hat. Ich habe bereits mehrere Demenz-Fälle in der Bekanntschaft/Verwandtschaft erlebt und was bei allen identisch abläuft/ablief, sind Aggressionen/Wutausbrüche oder Beschimpfungen gegenüber engen Verwandten. Woher kommt das und kann man überhaupt etwas dagegen machen? Wenn ja was? Oder muss man diese Persönlichkeitsänderung einfach hinnehmen. Ist es sinnvoll, dass gerade die beschimpften/abgelehnten Verwandten häufiger den Kontakt mit dem Demenzerkrankten suchen?
MfG K. Asmus

[Auguste D.]

RE: Alzheimer/Aggressionen


Liebe Kerstin,

wer die Konturen seiner Welt verliert, reagiert mit Traurigkeit oder mit Aggression oder mit einem Gemisch aus Beidem. Aggression sollte als ein Gefühl verstanden bleiben, was aus sich heraus gelebt werden will. (Ich beziehe mich aber nicht auf körperliche Gewalt, wenn es jetzt um Ideen geht, die wären dann sicher anders).
Würde ich nicht auch sehr wütend werden ? Und wohin dann mit meiner Wut ?
Also suche ich mir ein erreichbares Ziel. Wer besser kommt da in Frage, als die Menschen, die mir nahe sind, mir geradezu vor die Füsse fallen und deren (Verletzungs)Potential ich noch kenne. Die gewogen sind, mich anzuhören.

Nun fände ich es klasse, wenn es eine allgemeine Beschimpfungshotline für all die an Demenz erkrankten Menschen gäbe, um die sich kümmernden Angehörigen zu entlasten. Da dazu aber eine Kenntnis der Persönlichkeit des Anrufers und dessen Historie erforderlich wären, wird es die wohl so schnell nicht geben :-)



Nun wäre es interessant zu wissen, in welche Richtung die Anschuldigungen gehen. Das Verhalten eines Menschen, der an AD erkrankt ist, ist in puncto Einsichtsfähigkeit nicht zu ändern, aber durchaus zu beeinflussen. Das Verhalten der gesunden Menschen ist änderbar.

Eine Reihe der üblichen Anschuldigungen nebst Drohungen sieht ja in der Regel so aus:
Niemand kümmert sich um mich. Niemand mag mich.
Mir wird mein Geld weggenommen. Dauernd werde ich beklaut.
Ich enterbe dich. Ich verkaufe das Haus. Ich ziehe zurück nach Hause.

Irgendwas davon bekannt ?

Der geduldige Mensch wird versuchen, das zu beschwichtigen und das Gegenteil zu erklären (in dem er um die Fakten weiss...ich war doch erst gestern da, oder, oder )
Nutzt das nichts und die Litanei geht weiter bis zur Eskalation, meine ich, man hat das gute Recht, ein Telefonat oder ein Gespräch zu beenden. Es mag der bessere Weg sein, später ein neues Gespräch zu suchen und zwar so, als hätte es das Alte nicht gegeben.
Im Zweifelsfall und bevor man selbst heult, bitte aufhören !!!

Wenn man nicht unbedingt auf Richtigstellung beharrt, gehts in der Regel auch sanfter, will beispielsweise heissen:
Jaja, die Nachbarn klauen wie die Raben. Da müssen wir wohl demnächst die Polizei rufen.

Paradoxe Intervention ist überraschend mal die Seite umzukehren: z.B. über die Beschimpfung man wäre eine giftige Schlage zu sagen...okay, und nächstes Mal vernasch ich dich )
Solche Reaktionen kann man aber nur abrufen, wenn man sie trainiert. Da ja oft eine Wiederholung da ist, könnten Sie gemeinsam üben und überlegen, wie man zukünftig anders mit Geschimpfe umgeht.

Es geht und es gibt keinen Grund nun ausgerechnet die Beziehungen zu intensivieren. Bleiben sie und ihre Familie normal.

Lieben Gruss
Auguste D.

[Kerstin2567]

RE: Alzheimer/Aggressionen


Vielen Dank liebe Auguste D. sie sprechen mir aus der Seele, aber so schön hätte ich es nicht formulieren können. Mein Glück an der ganzen Angelegenheit ist, dass mich die Schimpfattacken nicht direkt betreffen und selbst wenn auch nicht persönlich treffen würden. Aber jeder Mensch reagiert eben anders und ich habe wie schon beschrieben etwas Erfahrung sammeln dürfen/müssen im Umgang mit Demenzerkrankungen. Es ist aber doch sehr beruhigend, von an unserer Situation Unbeteiligten Zuspruch und Unterstützung in Form solchen schriftlichen Austausch´s zu bekommen. Das hilft glaube ich jeder Familie sehr, weil dann klar wird man ist nicht allein mit dieser Situation.
Ihre Aussagen bezüglich der "Gründe" für die Beschimpfungen kommen mir auch sehr bekannt vor. Bei meinen Schwiegervater kommen dann solche Sätze wie "Der hat mir meine Arbeit weggenommen" oder "Die haben mir mein Auto weggenommen"... Das mit dem Auto macht ihm wohl am meisten zu schaffen, obwohl er schon lange nicht mehr in der Lage war, gefahrlos mit seinem Auto von A nach B zu gelangen. Wir haben jetzt überlegt, ihm Bilderbücher oder möglicherweise Bausätze aus dem Spielzeugladen oder vielleicht sogar einigen kleine Modellautos schenken. Aber wir sind uns nicht sicher, ob sich dann sein Frust noch mehr steigert oder ob ihn das möglicherweise sogar ablenkt und sogar beruhigt, weil er sich mit/in Auto´s wohl fühlt und ihm das sehr bekannt ist??! Er war nämlich in seinem Berufsleben Kraftfahrer. Und wenn er heute in einem Auto sitzen darf, wirkt er richtig glücklich und kann teilweise sogar noch einige techn. Details zum Besten geben oder Fragen zum Auto stellen...
Vielleicht haben Sie dazu auch noch eine guten Tip oder entsprechende Erfahrungen
Zunächst einmal vielen Dank und hoffentlich bis bald.
K. Asmus

[Auguste D.]

RE: Alzheimer/Aggressionen


Liebe Kerstin,

huhu ?
Sie sind nicht allein. Wir schreiben statistisch in Deutschland rund 1,2 Mio Erkrankte mal
X Angehörige.......und man redet noch immer darüber schwachstrommässig...... über den grössten Gau, der sich anbahnt, für Menschen werden älter und nun tritt dies gehäuft auf..........
Warum nur so ein kleiner Anteil, so wenige Menschen Hilfe suchen, weiss ich auch nicht... Scham, Verdrängung, es hat nichts mit dem Internet Anschluss zu tun, weil da müssten wir hier oder anderswo Tausendlisten sein...
Mama war der Grund, für all mein Wissen, das ich mir erworben habe. Sie sollen wissen, dass ich weiss, was es bedeutet.

Zur konkreten Auto Frage. Es ist in Echtzeit zu erleben, zu verfolgen, wie ihr Schwiegervater reagiert. Allein das ist ausschlaggebend, ansonsten würde ich sagen, ausweichen auf andere technische Spielereien und sei es Schrauben sortieren und bitte nicht verlangen, das 1 bei 1 ist......überhaupt, für all das angeschlagene Selbstbewusstsein...LOBEN, LOBEN, LOBEN,
niemand machts besser :-) und sein 1 = 2..so ähnlich lautet wohl die Gleichung, wenn unser Gehirn nicht mehr richtig denken kann...lassen Sie sich ein auf ein Schicksal, aber auch eine andere Erfahrung....


Liebe Grüsse und nun habe ich viel mehr geschrieben als mein Arm wollte, aber okay
Auguste

[Flieder]

RE: Alzheimer/Aggressionen


Hallo,

ja unsere liebe Auguste schreibt wirklich so schön, wirklich ein Talent.

Zu den Spielzeugautos etc. meine ich auch, dass es vielleicht schon toll für ihn ist, ein wirklich schönes Modellauto zu bekommen.. aber spielen.. wird er meiner Erfahrung nach damit nicht. Mein Vater ist nun schon etwas weiter fortgeschritten, aber leider ist es mit Dementen wohl nicht so, dass sie deshalb eher wieder wie Kinder werden, d.h. die Neugierde und der Spieltrieb sind nicht da. Ausserdem fühlt sich mein Vater veräppelt und wird richtig traurig, ich merke das, wenn man ihn wie ein Kind behandelt. Aber stolz wird er auf ein schönes Auto wohl trotzdem sein, soviel Kind steckt wohl in fast jedem Mann.
Zu den Beschimpfungen etc.. soweit ich weiss, kann die Krankheit auch wesensverändernd sein, oder aber es ist nur der psychologische Effekt. Auf alle Fälle hat Auguste recht, dass ein langes Lamentieren eigentlich nicht viel Sinn hat, einfach aufs nächste Mal hoffen, und demjenigen nicht bös sein.

Flieder