ich bin ganz neu hier und ich weiß noch gar nicht recht, wo und wie ich anfangen soll.
Mein Vater ist 72, seit 2010 in Rente und ich entdecke seit etwa einem Jahr Anzeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist.
Anfangs waren es noch Kleinigkeiten, wie verlegte Gegenstände oder vergessene Termine – die Dinge, die gerne damit abgetan werden, dass man im Alter eben etwas "tüdeliger" wird.
Als das anfing, habe ich innerhalb der Familie angesprochen (nicht im Beisein meines Vaters), dass ich glaube, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wie es vermutlich oft der Fall ist, wurde meine Sorge nicht allzu ernst genommen.
Zunächst verschlechterte sich die Situation nicht nennenswert, mein Vater behalf sich mit Post Its, Einträgen in den Terminkalender, was er auch früher schon gemacht hat, wenn auch nicht in dem Ausmaß.
Doch dann fiel mir immer öfter auf, dass er Schwierigkeiten mit komplizierteren Fremdwörtern hat, die er früher ohne darüber Nachzudenken im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet hat. Zuerst brachte er die Worte nach ein oder zwei Anläufen dann auch heraus, heute vermeidet er sie größtenteils. Da mein Vater immer sehr eloquent war, ist das bei ihm auffallend.
Auch auffällig ist, dass seine Motorik stark abgebaut hat.
Mir ist klar, dass es im Alter durchaus sein kann, dass man nicht mehr ganz so geschickt ist wie "früher", aber in der letzten Zeit häufen sich kleinere Zwischenfälle. Vor einem halben Jahr hat er nach einem Fahrradsturz seinen Tretesel endlich verkauft, was eine große Erleichterung für meine Mutter und mich war, da wir andauernd Angst hatten, dass er unterwegs stürzt und sich verletzt. Aber erst nach einem Sturz, der zum Glück glimpflich ausgegangen ist, ließ er sich vom Fahrradfahren abbringen. Andere kleinere Unfälle sind inzwischen fast an der Tagesordnung. Aufgeschürfte Schienbeine von der Gartenarbeit, etc.. Zum Glück ist noch nichts Schlimmeres passiert, aber mein Vater lässt sich auch nicht davon abhalten, bestimmte Dinge zu tun. Jahrelang kam ein Gärtner zu meinen Eltern, der den Garten im Frühjahr gemacht hat, doch plötzlich ist mein Vater der Meinung, dass der Gärtner das nicht gut genug macht und er es besser kann. Man sollte dazu sagen, dass mein Vater sein ganzes Leben lang ein Büro-Mensch war – weder mit Gärtnern, noch mit anderen handwerklichen Dingen hat er sich je auseinandergesetzt.
Da wir einen Familienbetrieb führen und dieser ans Wohnhaus meiner Eltern angeschlossen ist, Essen wir fast jeden Tag gemeinsam zu Mittag, auch wenn meine Eltern nicht mehr aktiv im Betrieb tätig sind. Auch bei dieser Zusammenkunft fällt mir auf, dass mein Vater mit der Motorik zu kämpfen hat: Er führt die Gabel oder den Löffel zum Mund wie ein Kind, das das essen gerade erst lernt. Zuerst wird gepustet wie verrückt (keine Übertreibung) und dann die Gabel so ungelenk in den Mund gesteckt, dass sie an den Zähnen anschlägt. Bei jedem Bissen.
Wo ich beim Thema Essen bin: Sein Appetit gleicht dem der Raupe Nimmersatt. Futterneid ist ein ganz großes Thema, das alle am Tisch mittlerweile schon umschiffen, indem man ihm die größte Portion lässt und auch die Reste, die er gern essen möchte.
Die Vergesslichkeit wird zunehmend schlimmer, oftmals entstehen darüber Diskussionen, die seinerseits mit den Worten "Davon hast Du mir gar nichts gesagt." beginnen. Sein Kurzzeitgedächtnis funktioniert deutlich schlechter, als sein Langzeitgedächtnis. Oft erinnert er sich an Gespräche oder Ereignisse, die ein paar Tage zurückliegen schon gar nicht mehr. Mein Vater überspielt es, sobald er merkt, dass ihm eine Erinnerung fehlt. Manchmal vergisst er auch, dass ich schon seit Jahren nicht mehr zu Hause wohne. Das merkt er meist direkt, nachdem er irgendwas laut ausgesprochen hat, das damit zusammenhängt und tut dann so, als sei es ein Scherz gewesen.
Einen Höhepunkt hatte seine Vergesslichkeit, als er vor ein paar Monaten unterwegs war und nicht mehr wusste, wo er sein Auto geparkt hatte. Er hatte sein Handy zu Hause liegen lassen, rief dann von einem Laden aus an und schilderte die Lage. Er bat darum, wenn er innerhalb eines bestimmten Zeitfensters zurück sei, dass ich ihn an einem vereinbarten Ort abholen sollte. Ich saß schon zum Losfahren bereit, als er dann doch noch nach Hause kam. Natürlich wurde das ganze überspielt (diese Neubaugebiete, da sieht alles gleich aus, usw.), aber hat uns allen einen gehörigen Schrecken eingejagt.
In der Ausprägung ist bislang allerdings nichts mehr eingetreten – zum Glück.
Was im Alltag aber dafür immer mehr zunimmt, ist verbale Aggressivität. Mein Vater war schon immer impulsiv und aufbrausend, aber in den letzten Monaten ist es extrem geworden. Wegen unwichtigen Dingen bricht er Streit vom Zaun und sei es nur, wenn die Schokolade im Kühlschrank im "falschen" Fach liegt. Beliebter Streitpunkt ist auch das gemeinsame Auto meiner Eltern. Nie war es ein Problem, sich abzusprechen, wer wann das Auto braucht. Seit ein paar Wochen teilt mein Vater erst kurz vor knapp mit, wenn er das Auto braucht, beschwert sich, wenn meine Mutter den Wagen nimmt (auch wenn sie ihm mehrfach Bescheid gesagt hat). In der Regel enden diese Diskussionen damit, dass mein Vater damit "droht", einen zweiten Wagen zu kaufen, weil meine Mutter ihn zu Hause einsperren will. Diese Anschuldigung ist vollkommen irrational, aber für ihn offenbar plausibel. Niemand möchte ihn einsperren oder ihm etwas verbieten. Er fährt ein bis zweimal im Jahr allein in den Urlaub (eine heitere Männerrunde), er besucht einen Zeichenkurs, geht hin und wieder zu Stammtischrunden. Dennoch kommen im Streitfall Argumente, die mit Einsperren zu tun haben. Da ein zweites Auto finanziell eine Zumutung wäre, traut sich meine Mutter schon kaum noch, das Auto überhaupt zu benutzen. Ein angespannter Zustand.
Mein Vater verfällt immer mehr in eine Art Kontrollzwang, er will wissen, wann meine Mutter wohin geht, mit wem und wie lange, will wissen, wenn ein Teller kaputt gegangen ist. Er im Gegenzug erzählt selten, wohin er geht – maximal die Stadt wird genannt, wenn er zu irgendwelchen Treffen mit Freunden fährt. Wenn man ihn darauf anspricht, lautet seine Antwort, dass ihm als Mann es zustehe, nicht alles zu erzählen.
Dieses Zurückfallen in mittelalterliche Strukturen ist generell zu beobachten:
Meine Mutter hat schon immer den Haushalt geschmissen, was sie auch weiterhin tut, aber beispielsweise am Wochenende wird schon seit langer Zeit nicht mehr gekocht. Entweder wird auswärts gegessen, etwas geholt oder kalt gegessen – plötzlich stört meinen Vater diese "Tradition". Es sei schließlich die Aufgabe der Frau, auch am Wochenende zu kochen. Auch, dass meine Mutter ehrenamtlich engagiert ist und gelegentlich mit Freundinnen unterwegs ist, stört ihn. Bietet sie ihm an, dass er sich ebenfalls ehrenamtlich engagieren könne, lehnt er das ab. Für so etwas habe er keine Zeit.
Es ist sehr schwierig, da auf einem normalen Level zu kommunizieren, da diese Aggressionen scheinbar aus dem Nichts kommen.
Mir ist klar, dass sie einen Auslöser haben müssen, aber manchmal wirkt es einfach, als würde eine Sicherung durchbrennen und dann ist auch kein vernünftiges Gespräch mehr möglich. Wenn man ihm aufzeigt, dass er sich an den Dingen beteiligen kann, von denen er sich offenbar ausgeschlossen fühlt, möchte er das nicht. Aus seiner Sicht verhalten sich alle ihm gegenüber unfair, er sagt oft, dass er sich gemobbt fühlt. Wenn man ihm erklärt, dass niemand mobbt, dass alles seinen gewohnten Gang geht, hat man nicht Recht.
Eine Sache ist mir außerdem noch aufgefallen:
Er ist sehr ruhelos. Oft wandert er bei mir im Büro umher, setzt sich hier hin, dort hin, ohne etwas bestimmtes zu wollen. Meine Mutter bestätigt das gleiche von zu Hause: Er wandert von Sessel zu Sessel, vom Wohnzimmer ins Hobbyzimmer, wieder zurück, schleicht durchs Haus. Nur die Nachtaktivität ist bislang ausgeblieben.
Tja. Das ist die derzeitige Situation.
Nun ist es so, dass wir schon versucht haben, meinen Vater dazu zu bewegen zum Arzt zu gehen, aber er verweigert strikt alles, was nur annähernd mit Untersuchungen zu tun hat. Er sei nicht dement, er habe keine Probleme, er müsse auch nicht zum Arzt. Da er nach wie vor klar denken kann und die groben "Aussetzer" die Ausnahme sind, wissen wir gar nicht, wie wir damit umgehen sollen.
Seine Aggressionen und auch sein Kontrollzwang sind nur schwer zu ertragen, besonders für meine Mutter. Vor allen Dingen hat sie große Angst davor, dass er seine "Drohungen" wahr macht und aus irgendeinem Streit heraus ein Auto kauft oder ähnliches und die Altersvorsorge meiner Eltern damit dezimiert.
Ich weiß gar nicht, ob ihr mir überhaupt helfen könnt, aber ich hoffe, dass ihr wenigstens ein paar Ratschläge habt, wie wir uns verhalten oder beraten lassen können. Das rote Kreuz hat hier im Ort eine Pflegeeinrichtung und einen Pflegestützpunkt gibt es immerhin 15 Minuten Autofahrt entfernt.
Ich hoffe, irgendjemand hat überhaupt bis hierhin "durchgehalten"
LG
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