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Mit dem Vergessen kommt die Entfernung

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  • Mit dem Vergessen kommt die Entfernung

    Hallo!

    Bei meinem Großvater wurde vor einigen Monaten Alzheimer diagnostiziert. Dies war eigentlich immer meine größte Angst - nachdem mein Vater 2007 als Alkoholiker verstarb und in meinem Leben nie wirklich eine Vorbildrolle einnahm, sah ich meinen Opa immer als eine Art Held. Er ist ein höchst intelligenter Mensch, hat alles überlebt - die russische Kriegsgefangenschaft, Malaria und alle Probleme, mit denen er je konfrontiert wurde. Nun wird er von einer Krankheit niedergestreckt, gegen die er machtlos ist.
    Ich kann offen gesagt nicht damit umgehen - meine größte Angst, dass ich eines Tages vor ihm stehe und er mich nicht mehr erkennt, ist so groß, dass ich ihn mittlerweile sogar auf offener Straße ignoriere, wenn ich ihm durch Zufall begegne. Jeder Besuch, die mittlerweile so selten geworden sind, ist für mich eine große Überwindung und mein schlechtes Gewissen quält mich so sehr, dass ich davon sogar Schlafprobleme bekomme.
    Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, für ihn da zu sein und der Angst, dass ich es nicht ertragen könnte, ihn so hilflos zu sehen. Leider reagiert er auch nicht besonders gut auf seine Krankheit - er neigt ab und an dazu, ausfallend zu werden und verzweifelt daran, dass er nicht mehr mit technischen Geräten oder dem Auto umgehen kann. Er ist wütend auf sich selbst und sein Umfeld, dass er sich Dinge nicht mehr merken kann.

    Ich weiß einfach nicht mehr weiter, wie ich mich verhalten soll und was ich gegen meine Angst und meine innerliche Verschlossenheit tun kann. Ich hoffe wirklich sehr, dass ich hier ein paar wertvolle Tipps zu meiner Situation bekommen könnte.

    Vielen Dank im Voraus!

    Tanja


  • Re: Mit dem Vergessen kommt die Entfernung


    Liebe Tanja,
    vielleicht schreiben Sie uns noch Ihr Alter und das Ihres Großvaters, damit wir Sie besser verstehen können.

    Ich möchte Ihnen sagen, dass auch eine Demenzkrankheit dem Menschen gar nicht die Würde nehmen muss. Die Umgebung ist es oft, die den Wert eines Menschen danach bemisst, was er kann. Es ist gut, dass Sie ein schlechtes Gewissen haben. Ihr Gewissen signalisiert Ihnen, dass Sie sich falsch verhalten haben. Doch das kann man ändern. Es ist sehr befreiend, wenn man auf sein Gewissen hört und die notwendigen Schritte wagt.

    Vielleicht wollen Sie auch zu viel. Sie können ihn ja nicht von seiner Krankheit befreien und wahrscheinlich sind Sie auch nicht in der Lage, seine Lebenssituation zu verbessern. Das müssen Sie auch nicht. Jeder sollte nur das tun, was er kann - perfekt ist es nie. Sie können ihm zeigen, dass Sie ihn lieb haben und das würde er spüren. Sie können ihm zeigen, dass Sie ihn achten - dass tut einem Demenzkranken Menschen sehr gut, denn er möchte trotz seiner Einschränkungen als Mensch akzeptiert werden. Sie können versuchen, ihn um seiner selbst willen zu lieben und nicht dafür, was er mal konnte.
    Ich habe in der Begegnung mit meiner Mutter auch lernen müssen, die Feinheiten des Menschseins zu erkennen und zu schätzen. Das ist ein Prozess und geht nicht von heute auf morgen, aber wenn man sich darauf einlässt, stellt man fest, dass das Leben sehr viel mehr Facetten hat, als man ahnt. Es ist eine Bereicherung.

    Sind die Osterfesttage vielleicht eine Gelegenheit, mal mit einer Leckerei einen Besuch zu machen und eventuell einen kleinen gemeinsamen Spaziergang zu versuchen?

    Ich wünsche Ihnen Mut und Kraft für einen Neuanfang.
    LG, Eva Franziska



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    Mein Steckbrief (Stand September 2010): Mutter, 86, betreut von mir (Tochter), 52, selbstständig. Keine weiteren Verwandten; Wohnen im selben Haus; Schweregrad: Anfang mittleres Stadium; Verstärkte Auffälligkeiten seit zirka 2006 nach Narkose wegen Arm-OP. Therapie nach Diagnose seit August 2009: Citalopram 20mg, Aricept 5mg, 2x/Woche Krankengymnastik wegen Gang-Ataxie; 1x/Woche tiergestützte Ergotherapie mit Hirnleistungstraining; 1x/Woche Begeitung bei kurzen Spaziergängen mit Gesprächaustausch (diese Dame begeleitet meine Mutter auch zur Physiotherapie und singt oft danach noch mit ihr). Ich versuche hauptsächlich mit Hilfe integrativer Validation (Nicole Richard) die Grundstimmung zu stabilisieren.

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    • Re: Mit dem Vergessen kommt die Entfernung


      Liebe Eva Franziska!

      Vielen Dank für die ausführliche Antwort.
      Ich bin 22 Jahre alt, mein Opa stolze 86. Die Jahre hat man ihm auch nie angemerkt, weil er stets fit wie ein Turnschuh war und auch heutzutage noch viel mit dem Rad unterwegs ist oder in der Gegend rumspaziert.

      Ja, die Osterfeiertage sind in unserer kleinen Familie die Tage, wo wir uns garantiert sehen werden. Vielleicht bin ich auch deshalb in letzter Zeit so unruhig.

      Ich hab auch heute mit meiner Mutter diskutiert, weil sie meinte, ich würde es eines Tages bitter bereuen, meine Großeltern nicht öfter besucht zu haben, wo ich doch oft die Möglichkeit dazu hätte.


      Ihre Worte sind mir wirklich nahegegangen, Eva Franziska - ich werde sie mir gewiss zu Herzen nehmen und versuchen, meine Angst zu überwinden und die Tipps in die Tat umzusetzen.

      Vielen herzlichen Dank!

      Lg, Tanja

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      • Re: Mit dem Vergessen kommt die Entfernung


        Liebe Tanja,
        ich finde es toll, dass Sie sich so viele Gedanken machen. Es ist wirklich nicht einfach, überhaupt im Leben mit Leid und Krankheit umzugehen. Mit 22 kann man das noch nicht so gut, weil man nur durch die Dinge lernt, die man durchlebt hat. Deshalb ist es auch ganz legitim und verständlich, dass Sie sich schwertun und Angst vor der Begegnung haben. Ich mache es immer so, dass ich mir eingestehe, dass ich nicht alles richtig machen kann. Manches habe ich schon gelernt und bei manchen Dingen mache ich schlimme Fehler. Wichtig ist, dass man aufrichtig ist.

        Die Angst ist oft viel schlimmer als die eigentliche Situation, deshalb gebe ich mir dann lieber einen Ruck, als ständig unter dem Druck zu leiden. Meist sind solche schwer erungenen Schritte dann auch die besten. Aber wenn Sie noch nicht den richtigen Zeitpunkt gekommen sehen, ist es sicher auch ok, noch etwas zu warten.

        Übrigens, wenn die Diagnose beim Großvater erst jetzt mit 86 Jahren war, ist es wahrscheinlich die Form, die spät begonnen hat. Das ist meist eine mildere Form und mit Medikamenten, guter Betreuung und Therapien kann man die Lebensqualität noch eine ganze Zeit lang verbessern. Die Medikamente brauchen aber ein paar Monate, bis sie die volle Wirkung entfalten und alle Angehörigen müssen viel Geduld aufbringen - vor allem sollte man möglichst nie korrigieren, sondern immer versuchen, den Betroffenen positiv zu unterstützen.

        Also nochmals alles Gute und es wäre schön, wenn Sie uns weiter berichten würden, es gibt sicher viele Mitleser, denen es ähnlich geht.

        Liebe Grüße,
        Eva Franziska

        Noch ein Tipp:
        Auf einer Internet-Seite haben Gabriela Zander-Schneider (Buch: Sind Sie meine Tochter?) und ihr Mann Wolfgang Schneider 38 Folgen der Hörbeiträge "Alzheimer-Gespräche" als MP3-Dateien zum Download veröffentlicht. Mit Gesprächpartnern aus Expertenkreisen und Angehörigen sind sehr hilfreiche Sendungen entstanden. Mir hat es gut getan, neben den Informationen auch durch das Hören zu erleben, dass man nicht alleine bleiben muss mit der Situation.
        http://www.alzheimer-gespraech.de/in...d=issuearchive

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