Erfahrungen mit einer Magensonde bzw. einer PEG (perkutane endoskopische Gastrostomie - Nahrungszufuhr über die Bauchdecke nach einer kurzen chirurgischen Maßnahme) haben wir noch nicht, aber früher oder später wird diese Problematik auch auf uns (Mutter und mir) zukommen. Es ist daher sinnvoll, sich frühzeitig Gedanken darüber zu machen.
Ich bin ziemlich sicher, dass Vater, wie er einmal war, derlei ablehnen würde. Er würde aber auch den Zustand ablehnen, in dem er sich bereits befindet. Die Persönlichkeit aber, die er jetzt ist - annähernd als kindliche Persönlichkeit im Sinne der vom Fachkrankenpfleger Ingo Schwalm (Ischwalm) beschriebenen "Rückwärtsentwicklung“ zu verstehen – hat ja genau so ihre Rechte wie die ursprüngliche intakte reife, erwachsene Persönlichkeit. Im Grunde genommen hat sie sogar noch mehr Rechte, denn es kommt ja die Fürsorgepflicht hinzu.
(zur Rückwärtsentwicklung siehe bitte ggf.
http://forum2.onmeda.de/read.html?26...46#msg-1640446 )
Erschwerend kommt hinzu, dass diese kindlich anmutende Persönlichkeit ja die Basis dessen war, was später als erwachsene Person erscheint. Mein Vater z.B. nimmt z.Z. immer mal wieder Dinge auseinander – sogar eine Brille einer Mitbewohnerin im Heim, die das aber gar nicht bemerkte (der Schaden wurde dann über die Haftpflichtversicherung geregelt). Das tun mitunter Kinder, die später einen technischen Beruf ergreifen. Ich tat das als Kind ebenso: Spielzeuge wurden zerlegt, um zu sehen, wie sie aufgebaut sind und funktionieren. Daher ist es – so gesehen – auch nicht ganz korrekt, von zwei Persönlichkeiten zu reden.
Nehmen wir als Beispiel Walter Jens: Dieser war einst ein starker Befürworter des selbstbestimmten Endes, verpasste aber dann den Zeitpunkt, diese Konsequenz aus seiner Auffassung zu ziehen, verlor die Krankheitseinsicht und wollte weiter leben. Und wie gelegentlichen Mitteilungen aus der Presse zu entnehmen, findet er noch Freude am Leben. Es ist wahrlich eine sehr komplexe Problematik – vielleicht unlösbar.
Wir können den Willen eines in einem weit fortgeschrittenen Stadium einer unheilbaren Demenz befindlichen Menschen nicht mehr (eindeutig) erkennen. Will er uns irgendwie mitteilen, endlich mit der ganzen Quälerei Schluss zu machen oder ist da gar keine Gedankenbildung mehr möglich, die einen solchen Willen erzeugen und formulieren würde, wenn das noch ginge?
Man muss sich hier vor reduktionistischen Schlüssen hüten, auch wenn sie naheliegend sind. D.h., man sollte sich nicht mit einer vereinfachten Erklärung mit unvollständigen neurobiologischen Argumenten zufrieden geben oder zufrieden stellen, etwa in der Art, dass ein weitestgehend zerstörtes Gehirn ja nur noch auf eher rudimentärer Basis arbeitet und gar keine Weltrepräsentation mehr zuwege bringen kann. Das geht m.E. gar nicht so einfach, weil auch im Endzustand noch Milliarden intakter Neuronen im Gehirn existieren und eigentlich „nur“ das Fehlen korrigierender Neuroplastizität eine Neuordnung des Gehirns zur Wahrung der persönlichen Integrität mit fast allen ihren Fähigkeiten verhindert. Zur Verdeutlichung: Es gibt Menschen, die mit bis zu 50 Prozent weniger Großhirnmasse oder mit fehlenden Hippocampi ein nahezu normales Leben führen können. Es existieren Berichte seriöser Fachzeitschriften (z.B. Lancet – gemäß Vortrag von Manfred Spitzer in „Teleakademie“), die von Menschen künden, denen die ganze linke Hirnhemisphäre – mithin das komplette Sprachareal – fehlen, und die dennoch mehrere Sprachen beherrschen. Allerdings wurden diese Defizite schon in der Kindheit behoben, in der sich das Gehirn noch viel leichter umorganisieren kann, als im späteren Leben. Würde man einen Weg finden, diese enorme Neuroplastizität auch im Alter noch mal „anschieben“ zu können, wäre das der Sieg über dementielle Erkrankungen. Aber derlei ist leider bestenfalls nur „Zukunftsmusik“ –uns hilft es hier und heute nichts.
Alles Leben will Glück erfahren und Leid vermeiden. Ich gehe davon aus, dass auch im Endstadium einer Demenz noch Welterfahrung stattfindet, wenngleich auch kaum mehr identisch mit unserer Welterfahrung. Der Ego-Tunnel (Thomas Metzinger) mag verzerrt, gekrümmt oder durchlöchert sein – er existiert dennoch weiter. D.h., es gibt immer noch einen Erlebenden, der Leid oder Glück erfährt.
Wird durch das Legen eine Magensonde bzw. einer PEG das Leid des Patienten nur noch erhöht? Ist danach keine Glücksempfindung mehr möglich? Wenn man diese Fragen eindeutig bejahen kann, sollte man auf diese Maßnahme verzichten.
Meiner Meinung nach – ich kann mich selbstverständlich irren – kann man diese Fragen nicht so einfach hinreichend beantworten. Mein Vorschlag wäre daher, es in jedem Fall zu versuchen, denn wie will man es sonst feststellen? Was bei anderen fehlschlug oder gelang muss nicht gleichermaßen im aktuellen Fall ähnlich verlaufen – aller Statistik zum Trotze.
Was wäre, wenn wir die Körperempfindungen weitestgehend abkoppeln könnten und das Gehirn in einen euphorischen Zustand versetzten? Das erscheint m.E. machbar.
Unser Ziel ist das Ziel allen Lebens: Glück. Dieses erfahren wir nach gelungener Arbeit, usw. Was aber geschieht dabei im Gehirn? Vereinfacht gesagt, kommt es im Gehirn zu einer Ausschüttung der sog. „Glücksstoffe“, das sind die sog. Endorphine. Es handelt sich dabei um körpereigene Opioide, die z.B. bei Nahtoderfahrungen enorme Glückseeligkeitsempfindungen auslösen können. Gibt man chemisch sehr ähnliche Substanzen von außen in das Gehirn (z.B. Morphin, usw.), geschieht ähnliches. Daher könnte es sinnvoll sein, den unheilbar Kranken Opioide zu geben – die Magensonde dürfte ihn dann kaum noch interessieren und die Abhängigkeitsgefahr wäre in diesen Stadien m.E. nur noch eine akademische Frage. Man praktiziert derlei ohnehin in Endstadien bei Krebs, usw. Warum also nicht auch hier? Warum dem unheilbar Kranken nicht sein „High“ gönnen, auch wenn er für uns dann noch weniger ansprechbar sein könnte? Wir sollten nicht uns zum Problem machen. Es wäre m.E. von uns egoistisch, vom Kranken zu „verlangen“, er möge immer schön wach sein, damit wir (!) noch mit ihm kommunizieren können. Aus meiner Sicht gäbe es nur einen Grund, nicht so zu verfahren: Die schon durch die Demenz erfolgte Zerstörung derjenigen Hirnteile, die für Glücksempfindungen zuständig sind (z.B. nucleus accumbens). Dann aber wäre es m.E. oberstes Gebot „den Stecker zu ziehen“, denn es bliebe ja nur noch pures Leid oder völlige Bewusstlosigkeit („Schlafes Bruder“) übrig. Wer will schon Folterknecht sein?
Soweit diese nur mal spekulativen und unausgegorenen Gedanken. Mehr nicht. Möge sich jeder selber seine Gedanken machen. Die Entscheidungen muss ohnehin jeder alleine treffen und ich befürchte schon jetzt wieder schlaflose Nächte, wenn die Reihe an meine Mutter und mich kommt.
Mit freundlichen Grüßen
Egon-Martin
Kommentar