Nur ein paar sehr unvollständige Gedanken
Ich möchte für diesen kleinen Aufsatz, der zur Diskussion anregen soll, ein Zitat voranschicken, welches ich auf der Homepage des Mediziners und Musikers ROLF VERRES gefunden habe:
„Die Medizin der Antike verstand sich als ganzheitliche Heilkunst, in der körperliches, geistiges und seelisches Wohlbefinden mit Sinnesfreude verbunden war. In Tempelkrankenhäusern überließen sich die Kranken im Heilschlaf den Träumen, der heilenden Kraft der von Asklepios eingegebenen Welt unbewusster Bilder.“
Wie sich Demenzkranke selber erleben, können wir – so wir uns die Mühe machen – zu einem nicht geringen Teil nachvollziehen. Ausgehend von dem 3-Stadien-Modell, dürfte es nicht allzu schwer sein, sich in das erste Stadium dieser Krankheit hineinzuversetzen. Die Welt wird überwiegend noch so wahrgenommen, wie sie allen erscheint, nur tritt ein verstärktes Vergessen auf, dass man eine ganze Zeit lang noch überspielen kann. Es fällt einem nicht mehr ein, wo man die Brille hingelegt hat, wie dieser oder jener Mensch heißt, was an Terminen ansteht und ob man wirklich die Haustür ordentlich verschlossen hat. Das kennen wir alle aus eigenem Erleben, wenn auch im Vergleich zur Krankheit nur selten auftretend und in abgeschwächten Formen. Aber es können auch im Verlauf dieses Stadiums bereits Symptome auftreten, die nicht mehr mit der Realität übereinstimmen. So kann das Nichtauffinden eines Gegenstandes trotz Suche zum Verdacht des Diebstahls führen, fremde Leute können ab und an im Haus oder im Garten gesehen werden, die es nicht gibt und es kann sogar der Verdacht auftreten, gar nicht im eigenen Haus zu leben, sondern in einer geschickt nachgebauten Kopie. Diese Symptome könnten bereits als psychiatrisch relevant bezeichnet werden. Können wir uns auch da noch hineindenken? Ich denke, wir können, wenn wir als Grund auch für diese Symptome nichts anderes als die langsam fortschreitende Agnosie ansehen. Erkennen ist ja – einfach gesagt – nichts anderes als der Vergleich von Sinneseindrücken mit im Laufe des Lebens gespeicherten Umweltrepräsentationen. Gelingt jetzt der Zugriff auf diese Speicherinhalte nicht mehr oder sind diese selber schon stark beschädigt, so findet der Vergleichsvorgang nur noch mit dem statt, was vorhanden ist. Dieses geschieht unbewusst; dem Bewusstsein – namentlich dem Ich-Konstrukt - wird erst das Ergebnis dieser (und vieler anderer) Vorgänge angeboten, also das, was bei dem Vergleich herausgekommen ist. Ist z.B. der betrachtete Gegenstand ein ovaler Bilderrahmen, aber dieses Bildformat nicht mehr als solches im Gehirn abrufbar, so würde als nächstes vmtl. ein kreisrunder Rahmen „angeboten“ werden, denn völlig unbewusst und automatisch bündelt das Gehirn ähnliche Speichersignale - im Versuch einer Rekonstruktion - zu einem Bild zusammen und präsentiert dieses dem Ich-Bewusstsein.
Und hier entsteht das Problem. Jahrmillionen der Evolution haben uns nämlich sehr erfolgreich gelehrt, dass wir uns zuallererst auf uns selber verlassen können, d.h. auf den Schatz der Überlebensprogramme und der gelernten nachgeburtlichen Erfahrungen. Das heißt, wir glauben felsenfest immer dem, was uns unser Gehirn anbietet, zumal wir ja gar nicht merken, wie das zustande kommt, denn unser Gehirn kommt selber in unserer Wahrnehmung nicht vor – es kann nicht einmal schmerzen, da seine Zellen, die Hirnneuronen, keine Schmerzrezeptoren besitzen (Kopfschmerzen sind keine Gehirnschmerzen). Und so bekommen wir über den Schmerz auch nichts signalisiert, wenn Gehirnprozesse nicht mehr so ablaufen, wie sie sollten (das hat übrigens auch mit mangelnden Krankheitseinsichten in Sachen Gehirndefekten zu tun). Und so glaubt dann der Patient – um im o.g. Beispiel zu bleiben – das Bild müsse kreisrund sein und verwirft das ovale Bild als fremd bzw. ausgetauscht. Anfangs kann man das dem Patienten manchmal noch erklären, so wie ich das soeben tat. Aber bald schon wird er derlei Erklärungen keinen Glauben mehr schenken, weil diese Erklärungen selber für ihn immer schwerer nachvollziehbar werden und sich derlei Fehlzuschreibungen häufen mit dem Voranschreiten der Krankheit.
Wir alle leben – ganz genau gesehen - nicht in der Wirklichkeit, sondern in dem, was uns unsere Gehirne als Wirklichkeit anbieten. Nur stimmen sie bei uns in großer Mehrheit überein, was Kommunikation überhaupt erst möglich macht. D.h. die kleinen Differenzen, die auch wir alle mit den Wahrnehmen bzw. dem Bewusstwerden des Wahrgenommen haben, sind vernachlässigbar. Sollte aber einmal jemand z.B. bei einer Feier ein Tröpfchen zuviel des Alkohols zu sich genommen haben, so fällt dieser uns schnell auf, weil dessen Wahrnehmung (und nachfolgendes Denken) sich deutlich von der unsrigen unterscheidet (bei Drogen ist das oft noch fataler). Aber auch ohne derlei chemische Interventionen schwankt unsere Befindlichkeit, so dass wir z.B. bei gedrückter Stimmung einen grauen Himmel lästig und bei gehobener Stimmung als silbergrau und nicht störend empfinden. Natürlich haben wir unterschiedliche Filter in unseren Gehirnen im Betrieb, die uns z.B. sagen, dass nur unser Gott der wahre Gott ist und alle anderen nur kleine Würstchen. Aber derlei Konditionierungen oder Prägungen lassen wir hier besser mal weg. Es geht hier nur darum, ein wenig Verständnis zu erblicken in der einfachen und schlichten Erkenntnis, dass keiner von uns ein absoluter Realist ist; es gar nicht sein kann.
Unsere Wirklichkeit ist wahr – die des Demenzkranken aber auch. Von seinem Standpunkt aus hat der Kranke recht. Allerdings gleitet er immer mehr in einer Reihe multipler Realitäten ab, die mit unseren multiplen Realitäten immer weniger übereinstimmen. Und wenn sich daraus nicht mit der Zeit Gefahren für ihn selber und zuweilen auch für andere ergeben würden, könnte man Demenz als alternativen Lebensstil betrachten. Um diesen Gefahren zu begegnen, müssen wir tätig werden. Dazu ist erneut das Gehen in den Schuhen des Kranken erforderlich – wir sind jetzt im zweiten Stadium und fühlen uns belogen und betrogen von den Leuten, die wir nicht einmal kennen, weil sie uns immer Dinge erzählen, die wir ganz anders „wissen“, denn wir sind ja nicht erst seit gestern auf der Welt. Wo sind überhaupt unsere Leute? Was haben wir an diesem Ort verloren? Auf- und zu unseren Leuten geeilt! (Mittlerweile hat sich unsere „innere Festplatte“ ein Stück weiter „formatiert“ und das, was wir noch finden – d.h. heißt, was unser Gehirn uns anbietet, ist mengenweise „Schnee von gestern“, ab und an etwas vermischt mit „Schnee von vorhin oder von vorgestern“.) Natürlich leben unsere Eltern noch und sind wohlauf, wir sehen doch „innen“ ihr Bild ganz deutlich vor uns – da wollen wir jetzt hin, damit dieser ganze Spuk endlich ein Ende hat. Mutter hat heute sicher was Leckeres gekocht. Was soll denn jetzt wieder dieses Gerede, die Eltern seien schon lange tot und warum will man mich nicht gehen lassen? Ich muss mich dagegen wehren, finde aber irgendwie nicht die richtigen Worte, sie fallen mir nicht ein.
Der Patient ist in keiner Weise verrückt, er denkt und handelt ganz logisch – in seinem Weltbild. Was würden wir denn tun, wenn wir uns plötzlich an einem fremden Ort mit fremden Leuten wiederfänden, die uns auch noch Vorschriften machen wollen? Wir würden rebellieren und dann bei mangelndem Erfolg unserer Revolte in uns zusammenfallen, depressiv werden, uns fragen, was in aller Welt wir denn verbrochen haben, dass man uns hier festhält. Vielleicht würden wir sogar in einem Akt der Verzweiflung um uns schlagen – wir wollen doch nur raus oder uns unserer Peiniger entledigen.
Zurück in unsere Schuhe: Wir müssen endlich einsehen, dass wir in vielen Dingen grundverkehrt gehandelt haben. Wir haben mit unseren – wenn auch noch so gut gemeinten – Versuchen, den Patienten in unsere Realität zu ziehen, ihn geängstigt, immer mehr verwirrt und provoziert. Damit haben wir für ihn die fremde Umgebung noch weiter bis zur Feindlichkeit verfremdet.
Was ist also zu tun? Zunächst beobachten wir und finden heraus, dass der „Agnosielevel“, also das Ausmaß des Nichterkennen bzw. des Reagierens auf die Agnosie, nicht konstant ist. Es gibt immer wieder Phasen, in denen der Patient sich moderat verhält und anscheinend wohlfühlt. Nun kann es leider vorkommen, dass fast von einem Moment auf den anderen der Patient hektisch wird und fort will, usw. Findet man dafür Auslöser, so sind diese zukünftig zu meiden. Dabei ist es aber nicht leicht, diese zu finden. Es könnten völlig falsch verstandene Worte einer kurz zuvor stattgefundenen harmlosen Unterhaltung sein, deren Bezug als Auslöser erst nach eindringlichen Überlegen erkannt werden kann. Es kann aber auch eine innere Überlegung des Kranken sein, z.B. darüber, mit wem er gerade spricht. Das halte ich für wahrscheinlicher. Plötzlich ist der Agnosielevel wieder mächtiger geworden und der Kranke sieht sich wieder in fremder Umgebung. Oder ihm fällt ein, dass er noch was zu erledigen hat – eine alte kleine Gedankenkette ist aufgetaucht, eine alte Regel wünscht Vollzug. Vergangene Routinen werden reaktiviert – heute völlig bedeutungslos, aber für den Kranken ist das Gestern heute.
Hier scheint es jetzt wichtig, zu erfahren, worum es geht. Die Nachfrage sollte unbedingt in interessiertem und anteilnehmenden Tonfall erfolgen und nicht Skepsis suggerieren. Wir begeben uns, so gut es geht, in das Weltbild des Kranken. Ja, es ist wichtig, diese Sache muss unbedingt gemacht werden. Aber der Kranke ist doch Chef - das sagen wir ihm - , er muss doch nicht alles selber machen. Man hole Telefon, Papier und Stift und biete sich an, alles in die Wege zu leiten, dass die Sache gemacht wird. Morgen wird es eine Vollzugsmeldung geben (morgen hat er alles wieder vergessen). So oder so ähnlich könnte man es versuchen. Man hat eine arbeitsmäßige, geschäftige Atmosphäre geschaffen, die der Patient als reale Arbeitssituation erlebt. Man kann sogar, falls möglich, einen Raum umgestalten als „Büro“ bzw. Arbeitsplatz, sich einen Kittel anziehen, usw. Man muss vielleicht Rollen einstudieren lernen, Theater spielen.
Diese permanent zu leistende Anpassung des Setting (umgebende Situation) an das Set (innere Situation des Patienten) ist nicht einfach und wird auch nicht immer gelingen. Aber sie ist zu leisten und wer das nicht kann, sollte den Kranken besser in die Obhut von Leuten geben, die das können – also in ein gutes Heim (vorher die Qualifikation der PflegerInnen, Räumlichkeiten, usw. prüfen!).
Wir kommen nunmehr in das dritte Stadium, das bei unsachgemäßer Pflege nur noch das Bild des elenden Vegetierens liefert. Der Patient wird rapide zum Vollpflegfall, zur Agnosie ist inzwischen u.a. eine voll ausgeprägte Apraxie (Verlust sensomotorischer Kompetenzen) hinzugekommen. Und doch haben wir keinesfalls einen „Zombie“ vor uns, sondern immer noch eine Persönlichkeit, wenn auch eine veränderte. Hier gilt es jetzt, die Umgebung für den Kranken besonders freudevoll zu gestalten, denn die emotionale Seite bleibt weiterhin (primäre Sinneserfahrungen) intakt. Dieses Verfahren nennt man Snoezelen, ein aus dem Niederländischen stammendes Kunstwort (in etwa „schnuppern“ und „entspannen“). Das Setting besteht aus einem mit milden Farbspielen und sanfter Musik, taktilen Reizen, usw. durchfluteten bzw. ausgestatteten Raum. Denkbar sind auch Großprojektionsflächen, auf denen schöne Naturbilder projiziert werden. Zusammen mit vernünftiger Palliativmedizin ist es dadurch möglich, dem Patienten einen schonenden Heimgang zu ermöglichen. (Ein System, was seinen Alten einen derartigen sanften Abschied nicht ermöglicht, verdient m.E. nicht länger, als menschwürdig bezeichnet zu werden. Ich las heute eine bizarre Überschrift einer bekannten Zeitung bei einem Kiosk, wonach Rentner bei eine evtl. Impfung gegen Schweinegrippe zuletzt geimpft werden sollen – klar, dieses Blatt sollte man nicht ernst nehmen – aber es drückt sich da doch eine gewisse Tendenz aus, die mir Sorgen macht – ich hoffe, wir müssen nicht (ganz bitter satirisch) am Ende gar so etwas wie eine neue „Wannseekonferenz“ befürchten, in welcher die „Endlösung der Altenfrage“ auf neue Art und Weise – in a soft way - geplant wird. Ob in den Chefetagen etwa keine Sozialdarwinisten hocken?)
Die Umwelt des Kranken sind nicht nur Räumlichkeiten und Gegenstände – die Umwelt sind in erster Linie wir bzw. das Pflegpersonal in Heimen oder Krankenhäuser und unser Verhalten. Wir sollten uns überlegen, ob nicht schon weit vor dem sog. dritten Stadium, Snoezelen zum Einsatz kommen könnte – z.B. in unseren eigenen vier Wänden.
Soweit.
LG
Egon-Martin
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