Die Begleitung und Pflege demenzkranker Angehöriger lässt uns mit dem unaufhaltsamen Fortschreiten der Krankheit immer wieder verzweifeln. Allein die Tatsache, auch am entfernten Horizont keine Aussicht auf Heilung zu erblicken, lässt uns manchmal am Sinn unserer Bemühungen zweifeln. Vor allem ist dieser Kreis von Krankheiten durch äußerst erschwerende Umstände gekennzeichnet, die v.a. in der nicht mehr vorhandenen Krankheitseinsicht der Kranken im fortgeschrittenen Stadium besteht mit den quasi psychotischen Zuständen in Akutphasen, denen wir oft hilflos gegenüberstehen. Es ist vmtl. leichter, einen an einer anderen schweren Krankheit leidenden Menschen zu pflegen, da dieser noch durchgängig einer vernünftigen Kommunikation zugänglich ist.
Wie auch der Alkohol- oder Drogenkranke oder der an einer Psychose leidende Mensch, so belastet der Demenzkranke (exakter: nicht der Kranke, sondern die Krankheit) seine Angehörigen in einem weit über das Spektrum anderer Krankheiten hinausgehenden Maße - nur das für Alkohol- oder Drogenkranke sowie für Psychotiker mehr Hoffnungen auf Heilung bestehen, als bei manchen Demenzerkrankungen wie Morbus Alzheimer.
Es ist daher verständlich, wenn uns Angehörigen auch schon mal schlimme Gedanken kommen, die aus dieser Verzweiflung entstehen und deren Nachvollzug Außenstehenden nahezu unmöglich sein dürfte. So wird es wohl keinen Angehörigen geben, der sich nicht schon mal angesichts der immer größer werdenden Probleme, die sich aus dem Krankheitsfortschritt ergeben, gefragt hat, ob nicht der Tod hier gnädiger wäre, als ein Leben in Verwirrung, Angst, Depressionen, Aggressionen, usw. welches am Ende nur noch in einer Art „persönlichkeitsentkerntem Hüllendasein“, dem Zustand reinen Vegetierens, besteht.
Wenig tröstlich ist die Tatsache, dass die Demenz nahezu jeden treffen kann und auch viele sog. Prominente ihr Opfer wurden. Dennoch bin ich dankbar gegenüber jedem Angehörigen von demenzkranken Prominenten, von Nancy Reagan angefangen bis zu Inge Jens und vielen mehr. Ich bin dankbar für ihre Berichte, da sie zur Entstigmatisierung dieser Krankheit beitragen und einmal mehr zeigen, dass wir Menschen ungeachtet unseres gesellschaftlichen Ranges letztlich doch alle „in demselben Boot sitzen“. Inge Jens, die ich hier kurz hervorheben möchte, hatte gegenüber einem großen deutschen Nachrichtenmagazin den mutigen Satz über ihren demenzkranken Ehemann Walter Jens gesprochen: „Ich bete, dass er eines Morgens einfach nicht mehr aufwacht.“ Sie hatte miterlebt und mitdurchlitten, wie der Zerfall eines intellektuellen Genies unaufhaltsam voranschritt, bis die „Erinnerungsdatenbänke“ des einstigen Professors für Rhetorik zerstört waren und er nichts mehr von seinem Werk wusste. Alles, wofür Walter Jens einst lebte, war ihm entschwunden, unwiederbringlich mit der massiven Zerstörung seiner Hirnneuronen verloren. Allerdings: Verloren zwar für ihn – jedoch nicht für uns. Denn er hatte (s)ein Lebenswerk vollbracht und mag metaphorisch für uns andere darin weiterleben. Walter Jens selber ist nicht mehr – er ist auf dem Weg zur „Hülle“, denn die Persönlichkeit, die wesentlich aus der Biographie geformt wird, erlischt im Laufe der Krankheit mit dem Erlöschen der biographischen Erinnerungen. Die Bitte um Erlösung ist daher nur allzu verständlich und m.E. auch geistlich legitim, da hier Gott die Ehre gegeben wird und nicht der Euthanasie.
Ein anderer Professor, Manfred Spitzer – einem breitem Publikum v.a. durch seine populärwissenschaftlichen Sendungen, in denen er das Gehirn erklärte, bekannt – hat einmal gesagt, dass man - falls notwendig - allerlei Organe auswechseln ließe, jedoch nie das Gehirn. Ein anderes Gehirn würde sich keiner transplantieren lassen, weil in diesem Organkomplex alles steckt, was uns als Persönlichkeit ausmacht. Hierfür gibt es unzählige Belege, vielleicht angefangen mit dem legendären Phineas Gage aus dem 19.Jahrhundert, dessen starke, durch einen Arbeitsunfall hervorgerufene Läsion eines Teiles seines Stirnhirnes zu einer drastischen Persönlichkeitsveränderung führte über den Experimenten von Libet, Haggard, Eimer, usw. die zeigten, dass jenes, was uns bewusst wird, bereits einen langen neuronalen Weg hinter sich hat und vmtl. der sog. freie Wille nur eine illusionäre Zuschreibung ist, bis zur Erkenntnis, dass unsere Persönlichkeit von einer sogar überschaubaren Anzahl sog. Neuromodulatoren oder Neurotransmitter abhängt. All das wird durch eine Demenz erst langsam beeinträchtigt und dann zunehmend zerstört. Daraus ergibt sich die schwierige Frage nach dem Zeitpunkt des Verlustes der Identität als die Persönlichkeit, die zig Jahre den Menschen als einzigartiges Individuum dargestellt hat.
Als mein Vater im Sommer 2007 noch krankheitseinsichtig war und sogar Scherze über seine Demenz machte, war er dennoch überzeugt, der Diebstahl seines Werkzeuges sei real, er hätte nichts mit seiner Demenz zu tun. Einige Monate später meinte er, er hätte einmal eine schwere Demenz gehabt, die aber jetzt vorüber sei und heute weiß er von alledem nichts mehr. Mutter und vor allem ich haben im Sommer 2007 einen schweren Fehler gemacht. Wir hatten Vater gesagt, dass eine Demenz sehr langsam verläuft, man keine Schmerzen verspüre und sicher genug Zeit vorhanden wäre, ehe es schlimmer würde. Dann würde es mit Sicherheit bessere Medikamente geben und die Krankheit auch zu heilen sein. Außerdem wachsen Hippocampineuronen nach, so dass das alles nicht so schlimm sei. Dieses beruhigende Gerede mag dazu beigetragen haben, dass Vater sogar über seine Demenz scherzen konnte. Es war aber falsch – ein falsches Mitgefühl. Richtig wäre es gewesen, Vater ungeschminkt den Verlauf der Krankheit zu schildern (schließlich starb u.a. seine Schwiegermutter indirekt daran), so dass er eine Vorsorgevollmacht mit Patientenverfügung hätte verfügen können. Aber wir gaben uns ja selber absurden – wie wir jetzt wissen – Hoffnungen hin, glaubten nur selber zu gerne unseren Beruhigungen, zumal Vater damals ja auch noch vieles konnte wie (in Begleitung) sicher Autofahren, elektrische Geräte reparieren, usw. Der Mensch verdrängt nun mal gerne alles Unangenehme – muss dieses sogar, da er sonst unweigerlich depressiv würde. Dieser lebensnotwendige Schutz hat aber leider auch viele Fallen, in die wir nur allzu leicht hineinstolpern.
Ich denke oft darüber nach, was Vater wohl sagen würde, hätte er 2005 durch eine Zukunftsschau sehen können, wie er sich jetzt, im Mai 2009 verhält. Wie erschrocken wäre er wohl gewesen, würde er einen Mann sehen, der sich mit seinem Spiegelbild und Stofftieren unterhält, der Gestalten, Dinge und Vorgänge sieht, die real nicht vorhanden sind, der sein Heim und seinen Sohn nicht mehr erkennt, seine Ehefrau nur noch wenige Stunden bis Momente am Tag als solche akzeptiert, immer weg will, sich von allen bestohlen und betrogen fühlt, sich ohne Hilfe nicht an- und auskleiden kann und vieles mehr - der vor allem sieht, wie sehr er seine Frau mit seinen Zuständen quält? Und welche Konsequenzen würde ein Mann, der zig Jahre seine Familie zu schützen wusste und vmtl. sogar sein Leben für sie gegeben hätte, daraus ziehen? Er würde mit absoluter Sicherheit versuchen, Vorkehrungen zu treffen, um das alles zu vermeiden. Kein vernünftiger Mensch wünscht sich eine Zukunft in Idiotie und Unwürde. Die Medizin und wir aber muten diesen Menschen das zu, müssen das diesen Menschen zumuten, denn wir haben ja nicht das Recht, Gott zu spielen und das Leben anderer zu beenden. Was Gott betrifft, so sprach ich u.a. im Februar 2008 ein Gebet – nicht für ein möglichst sanftes Ableben Vaters, sondern um Heilung. Ich berief mich auf Jakob, der gemäß altem Testament mit Gott einen Handel machte und bot Gott allerlei an, wenn er Vater heilen würde – denn jener, der einen bereits fast verwesten Lazarus auferstehen lassen konnte, sollte mit Leichtigkeit auch eine neurodegenerative Erkrankung heilen können. Zudem berief ich mich auf die Evangelien, in denen u.a. zu lesen ist, dass der, der um ein Brot bitten würde, keinen Stein erhalte. Vielleicht existiert Gott gar nicht, vielleicht bin ich zu unwürdig, vielleicht mag er uns auch gar nicht, vielleicht hat er einen anderen Plan, vielleicht kommt das Wunder noch, vielleicht....... Tatsache ist bis heute: Es gab bisher keine Heilung. Sie wäre ein echtes Wunder und keine Spontanremission, wie sie z.B. in seltenen Fällen bei fortgeschrittenen und unheilbaren Krebserkrankungen geschieht, denn bei Krebs verschwinden in solchen Fällen Tumore, hier aber würde etwas erneut entstehen (viele Neuronen mit all jenen synaptischen Kontakten, die es einmal gegeben hatte) und die alte Persönlichkeit wieder erscheinen lassen – das wäre m.E. schwer bis gar nicht naturalistisch zu erklären. Davor müsste auch der größte Skeptiker seinen Hut ziehen.
So aber geht die Wanderung ins finstere Tal immer weiter und es bleibt bei Psalm 23 als einzigen Trost. Kommt nicht ohnehin für jeden einmal das Ende? Ja, aber muss es auf diese grausame Weise erfolgen? Es gibt Menschen, die fallen – vmtl. infolge eines Schlaganfalls im Hirnstamm – einfach tot um. Keine Agonie, sondern plötzlicher Schlusspunkt. Wenn also sterben, dann im hohen Alter bitte so – kurz und schmerzlos.
Alter, Krankheit und Tod – damit haben wir es v.a. hier im Forum zu tun. Nur wenige wissen, dass die Konfrontation mit diesen unausweichlichen Phänomenen für einen jungen Mann, der vor. ca. 2500 Jahren im Norden Indiens lebte, der erste Schlüssel zu seinem Erwachen war. Siddharta Gautama aus dem Fürstengeschlecht der Shakia war zutiefst schockiert, als er zum ersten mal in seinem Leben einen alten, einen kranken und einen toten Menschen sah. Auf seine Frage, ob das jedem und damit auch ihm geschehen würde, antwortete sein Diener mit Ja. Dieser Edle, der bisher nur die Pracht des orientalischen Luxus seiner Zeit genossen hatte, besaß die Stärke, diese schockierenden Erlebnisse nicht zu verdrängen, sondern dachte über sie nach. Welcher Sinn besteht denn in all der Pracht, in all den Genüssen des Lebens, wenn das Ende grausam und unausweichlich ist? Ist das nicht alles nur gleißender Tand, flüchtig wie der Tau am Morgen? Unzählige hatten vor ihm gelebt, hatten das Leben so gut sie konnten, genossen und sind dann wieder im Tod verschwunden und Unzählige werden auch nach ihm diesen Weg gehen müssen. Er war wie all diese Menschen und war auch wie alle Tiere, ein fühlendes Wesen, das Glück erleben und Leid vermeiden wollte. Welcher Fluch ist es, der alles Bestreben und alle Hoffnungen wieder zunichte macht in jedem Leben, das je gelebt hatte, lebt und je leben wird? Gautama fand heraus, dass es die Bestrebungen und Hoffnungen selber sind, die immer schon mit ihren Enttäuschungen schwanger gehen. Diese seien aber immer auf Sinnesbefriedigungen zurückführbar. Also entschloss er sich, allem zu entsagen und wählte den Weg der Askese. Er ging sozusagen von dem Extrem permanenter Sinnesbefriedigung zum anderen Extrem der Sinnesabtötung über und hungerte sich fast zu Tode. Doch dann erkannte er: Weder Sinnesüberreizung noch – abtötung sind die richtigen Methoden, sondern das Reinigen der Sinne. Diese Erkenntnis und die damit verbundene Sicht auf die Phänomene, wie sie wirklich und nur in der reinen Anschauung gereinigter Sinne erfahrbar sind (sog. direkte Wahrnehmung), ist das, was man Erwachen nennt. Es geht schlicht und einfach um die Tatsache, dass nichts so ist, wie es uns (gewöhnlich) erscheint. Was wir bewusst zu erleben glauben, ist – wie weiter oben schon angedeutet – nur ein vielfach gefiltertes und mit allerlei (Vor)-Urteilen behaftetes Endprodukt als „Teilabbild“ einer Wirklichkeit, die ungleich größer ist. Ähnlich dürfte es auch Hoimar von Ditfurth gemeint haben, als er schrieb, dass wir nicht in der Welt leben, sondern nur in dem Bild, welches wir von ihr haben – was mittlerweile durch die Neurobiologie mehrfach bestätigt wurde. Plakativ formuliert: Ob wir in einem Drama oder einer Komödie leben, ist nur eine Frage des Standpunktes, den wir aber leider nicht so ohne weiteres wählen können (darin besteht ja das ganze Problem). Oder wie es in einem Gleichnis der Yogacharaschule (Cittamatrin), eines der vier großen buddhistischen philosophischen Systeme, heißt: Der See ist ein See – auch wenn der eine darin eine Ansammlung von Eiter, ein anderer Wasser und ein anderer Nektar erblickt. Philosophisch formuliert: Kein Phänomen existiert aus sich selber heraus, sondern immer nur in Abhängigkeit seiner Voraussetzungen und Benennungen. Daher gibt es in Wirklichkeit auch weder Schmutz noch Reinheit, weder Krankheit noch Gesundheit, weder Leben noch Tod, sondern nur die Leerheit aller Phänomene von Teilelosigkeit, Beständigkeit und Unabhängigkeit. Das ist das, was man im Buddhismus unter „Leerheit“ versteht und nicht ein nihilistisches Vakuum, wie oft fälschlich angenommen. Ob es einen Gott gibt, der diese Leerheit „füllt“, weiß ich nicht – benötigt wird er bei diesem Weltbild nicht (im Naturalismus allerdings auch nicht). Vielleicht (siehe oben) erfahre ich das noch – vielleicht auch nicht.
Doch zurück auf den Teppich der alltäglichen Probleme: Was nutzen derartige Reflektionen? Ich kann nicht wissen, ob sie den LeserInnen nutzen. Mir aber helfen sie, den engen Käfig alltäglicher Verblendungen wenigstens mental ab und an zu verlassen. Wenn mir das – selten genug – mal besonders gut gelingt, sehe ich die Dinge nicht mehr in der gewöhnlichen erdrückenden Dramatik, sondern ebenso als Spiel der Welt an, wie auch jedes andere ineinander verwobene Geflecht in seiner jeweiligen Dynamik, denn nichts bleibt so, wie es ist. Auch der schlimmste Schmerz ist genau so vergänglich wie das höchste Glück. Das zu begreifen ist notwendig, um die eternalistische Täuschung zu überwinden, die darin besteht, zu empfinden und zu denken, irgendwas würde immer weiter bestehen, ein nie endender Schmerz, usw. Alles Täuschung – mehr nicht. Die größte Täuschung besteht allerdings darin, in unserem Ich oder Selbst mehr zu sehen, als ein zeitweiliges Hirnkonstrukt. Gerade das macht m.E. die Demenz besonders deutlich, denn das Selbst im fortgeschrittenen Stadium ist ein anderes als das frühere. Folglich kann es sich beim Selbst oder Ich (für mich synonym) nicht um eine Konstante handeln – ein Umstand, der sich übrigens in der sog. Anatman-Lehre des Buddha durch das gesamte Lehrwerk zieht. So gesehen, hat u.a. mein Vater – ohne es zu wissen – die Auffassung des Buddha bestätigt. Und wie auch viel anderes Ungemach uns auch als Lehrer dienen kann, so lehrt uns die Demenz etwas, was wir eigentlich nie wahr haben wollen: Die Vergänglichkeit unserer eigenen Auffassung von unserem Ich. Es ist sehr wohl existent – aber nicht in der Art und Weise, wie wir es gewöhnlich erleben. Gewöhnlich erleben wir unser Selbst als ein von der Geburt bis zum Tode andauerndes unabhängiges, unteilbares und beständiges Kontinuum - dessen Umfeld variiert, dessen Kern jedoch konstant bleibt. Jedoch wird dieses gewöhnliche Kontinuum bereits jede Nacht unterbrochen im Tiefschlaf und taucht nur im Traum in veränderter Umgebung wieder auf. Nichts davon jagt uns große Furcht ein, denn wir wachen ja immer wieder auf. Eine interessante Frage dabei ist, wie es kommt, dass wir uns am nächsten Morgen im Spiegel wieder erkennen. Wo war unser Selbst während des Tiefschlafes? Offensichtlich bricht das Selbst in jedem Tiefschlaf (bzw. Narkose) zusammen, um danach wieder eingeschaltet zu werden als das, was es zuvor war. Bei der Narkose geschieht das durch Leitungsunterbrechungen – da werden ein paar Ionenkanäle in den Synapsen der Neuronen für eine gewisse Zeit „verstopft“ und schon ist es vorbei mit dem Wachbewusstsein. Bei einer Demenz verschwinden leider die gesamten Kontakte (Synapsen), die Leitungen (Dendriten, Axone) und auch die Verarbeitungszentren (Neuronen) nach und nach. Der Demenzkranke ist also auf dem Weg zu einem narkotischen Zustand, der dann auch in einer gewissen Ähnlichkeit dazu im Endstadium erreicht wird. Das mag für ihn der Trost sein, nichts oder nicht mehr viel zu empfinden, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen, usw. Leider wissen wir nicht, was genau im Bewusstsein bei einer derart fortgeschrittenen Krankheit geschieht, denn man kann sich nur bis zu einem gewissen Punkt halbwegs und oft nur auf Annahmen beruhend in das Empfinden eines derart Kranken hineinversetzen. Sein Weltbild ist einerseits reduziert, andererseits aber auch um halluzinatorische Effekte „erweitert“. Ich fühle mich zuweilen an das sog. tibetische Totenbuch erinnert, in dem von allerlei Visionen während des Sterbens und nach dem Tode berichtet wird. Die Verfasser dieses uralten Buches kannten vmtl. Praktiken bestimmter Atemtechniken oder Halsschlagadersperrungen durch Abdrücken, um den Hirnmetabolismus durcheinander zu bringen (was ihrer vorwissenschaftlichen Sicht natürlich nicht bewusst war), was zu Erfahrungen geführt haben dürfte, die u.a. denen eines sog. Nahtoderlebnisses ähneln. Es ist aber schon eigenartig, dass ein sterbendes Gehirn derartige Aktivitäten erzeugt bzw. dass derartige Aktivitäten durch Störungen des Filtersystems in die bewusste Wahrnehmung gelangen. Bei einer Demenz mag derlei quasi in Zeitlupe ablaufen.
Aus den letztgenannten Gedanken ergibt sich für mich allerdings eine wichtige Schlussfolgerung: Wenn es auch in weit fortgeschrittenen Stadien einer Demenz noch ein Freud- und Leiderleben in irgendeiner Form für den Kranken gibt, so verbietet sich m.E. jede Euthanasiemaßnahme. Nur wenn eindeutig erkennbar ist, dass es nur noch Leidempfindungen gibt oder gar keine Empfindung (Flatline über eine gewisse Zeit im EEG), kann m.E. das Leben beendet werden. Das wäre dann m.E. auch nicht religionswidrig oder inhuman, sondern sogar ein Gebot der Barmherzigkeit, die über jede Gesetzlichkeit steht. Das Leiden hört auf, die Maschinen können dann anderen dienen.
Soweit und in der Hoffnung, nicht zuviel „palavert“ zu haben.
LG
Egon-Martin
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