Angeregt durch den Inhalt einer PN von Leona habe ich mir überlegt, wie man evtl. Akutzustände bei Demenzpatienten durchbrechen und damit beenden oder mildern kann. Zunächst sei eine Definition des Begriffs „Akutzustand“ aus meiner Sicht gegeben:
Unter einem Akutszustand bei einer Demenz verstehe ich das mehr oder weniger plötzliche Auftreten einer qualitativ gravierenden Stimmungslage, die drastisch zu der unmittelbar oder mittelbar zuvor herrschenden Stimmungslage beim Patienten kontrastiert und für den Betrachter das Bild großer Verwirrung des Patienten darstellt und es diesem nicht möglich macht, weiterhin eine auch nur halbwegs geordnete und sinnvolle Kommunikation mit dem Kranken zu führen. Der Akutzustand ist gekennzeichnet durch eine weitgehende Unzugänglichkeit des Kranken für die sonst übliche äußere Beeinflussung und dem oft zu beobachteten Zwang, etwas Bestimmtes auszuführen – z.B. wegzulaufen, usw. Der Akutzustand kann zu selbst- und fremdgefährdenden Situationen führen.
Beispiele:
Ich sitze mit dem an SDAT erkrankten Vater und meiner Mutter beim Nachmittagstee. Die Stimmung ist gut, es wird zuweilen gescherzt und gelacht; Vater fühlt sich wohl. Dann wird Vater plötzlich still, sein Gesicht verfinstert sich, seine Arme verschränkt er über die Brust. Kurz darauf erhebt er sich, geht aus dem Zimmer in den Flur, zieht sich unter der patzig klingenden Bemerkung „Ich ziehe mich an. Ich hau ab!“ Jacke und Mütze an und verlässt die Wohnung. Es gab nicht den geringsten Anlass für diesen plötzlich hereinbrechenden Stimmungsumschwung – im Gegenteil, kurz zuvor war noch alles harmonisch.
Kurz nach dem Abendbrot meint Vater, er müsse dringend nach Hause zu seiner Frau und seinem Kind. Die Versicherung, das er zuhause ist und seine Frau und sein Sohn mit ihm am Tisch sitzen, wird ignoriert; Vater wird weinerlich und depressiv, bleibt aber im Haus. Nach einer Weile ändert sich Vaters Stimmung und er ist wieder guter Dinge und weiß von alledem nichts mehr, während Mutter und ich noch in Sorgen grübeln.
Das erste Beispiel hatte einen leicht aggressiven Charakter, das zweite einen depressiven. Solche und v.a. schlimmere Zustände, die bis zur tätigen Aggressivität reichen können, muten psychotisch an, da ja der Psychotiker in seiner – anderen unzugänglichen – Welt zu leben scheint, in der andere Bezüge und Gesetzlichkeiten gelten als in den Welt des common sense, die wir für uns als normal ansehen, was ja auch korrekt ist, weil ein stimmiges und sozial angepasstes Verhalten gesunder ist, als ein davon gravierend abweichendes. Demzufolge ist es auch logisch schlüssig, derartige Akutzustände ab einem gewissen Punkt mit eben den Medikamenten zu begegnen, die tatsächlich geeignet sind, psychotisches Denken, Reden und Handeln zu beenden oder wenigstens zu mildern, sprich, den sog. Neuroleptika.
Die Gleichung Demenz = Psychose indes würde wohl kein Experte als korrekt ansehen, da ja auch die hirnchemischen Mechanismen hier wohl arg differenzieren wenngleich in kleinen Teilen übereinstimmen könnten. Ich stelle mir daher die Frage nach dem allen Akutszuständen gemeinsamen und evtl. zugrundeliegenden Voraussetzungen und finde als Antwort die Agnosie.
Die Erklärung in Bezug auf die beiden o.g. kleinen Beispiele könnte so aussehen:
Während der Unterhaltung beim Nachmittagstee kommt es im Gehirn des Kranken zu Unterbrechungen der vorher intakten Signalwege, der Hippocampus versagt in der Organisation des deklarativen Gedächtnisses oder salopp: Der Zugriff zu den „Erinnerungsdatenbanken“ ist gestört. Erkennen stellt einen fortgesetzten mit gespeicherten Inhalten (Erinnerungen) vergleichenden Informationsfluss im Gehirn dar, der uns in seinem Ablauf und seiner Komplexität nicht bewusst ist. Wir erhalten immer das fertig verarbeitete Konstrukt geliefert, das wir durch noch nicht ausreichend erforschte Mechanismen im Vorderhirn dann bewusst erkennen oder als fremd ansehen. Versagt der Vergleichsprozess z.B. bei der individueller Gesichtserkennung, so sehen wir zwar noch ein menschliches Gesicht, können es aber nirgendwo mehr zuordnen: es ist uns fremd. Gleiches gilt auch für andere Eindrücke, z.B. Möbel, Raumstrukturen, usw. Auf einmal ist alles fremd – nicht so fremd wie es vielleicht eine durch bestimmte Drogen hervorgerufene Optik es uns (verzerrt in Strukturen und Farben) wahrnehmen ließe, aber doch fremd in Bezug auf die korrekte Zuschreibung zu bestimmten Personen oder Orten, usw. Man wähnt sich plötzlich „im falschen Film“, d.h. an einem fremden Ort mit fremden Personen und empfindet Unbehagen. Der kognitive Fluss ist unterbrochen, aber der emotionale Fluss scheint weiterhin zu funktionieren und erzeugt das (unbewusste) Bedürfnis nach Herstellung der vorherigen emotional angenehmen Situation. Also verlässt man zunächst den als fremd empfunden Ort mit den ebenso als fremd empfundenen Personen und will zu den „richtigen“ Personen, die sich an einem anderen Ort befinden müssten. Das Aussehen der „richtigen“ Personen und Orte wurde inzwischen durch das Gehirn vmtl. durch Rückgriff auf noch zugängliche Ressourcen an Speicher rekonstruiert. Und dadurch kann es vorkommen, dass die Rekonstrukte veraltet sind, dass es sich um ältere Bilder von Orten und Personen handelt, die der höchst komplexe Bindungsprozess im Gehirn nun dem Vorderhirn (präfrontaler Cortex, PFC) zur Verfügung stellt. Dieses wiederum erlaubt eine scheinbar logisch korrekt Suche nach eben diesen veralteten Bildern von Orten und Personen der Vergangenheit, die aber das Gehirn als aktuell fehlinterpretiert. Und dann leben sie plötzlich scheinbar wieder alle, die Eltern eines alten Mannes und seine längst verstorbenen sonstigen Angehörigen, usw. Eine dementes Gehirn ist – so gesehen – eine virtuelle „Hirnzeitmaschine“, die scheinbar in vollem subjektiven Erleben „Ausflüge“ („Hirnzeitreisen“) in die Vergangenheit erlaubt – was dann allerdings an der realen Gegenwart scheitert. Tatsächlich kommen dabei sogar längst verloren geglaubte Erinnerungen wieder ans Licht – wenn auch leider im pathologischem Zusammenhang. Mutter hatte sich immer wieder darüber gewundert, dass Vater sich plötzlich für Orte und Personen interessiert, die er jahrzehntelang nicht mehr erwähnt hatte.
Es ist die – wie die Experten sagen - sog. Neuroplastizität, die all das zuwege bringt. Unser Gehirn ist – wie der Körper an sich – bestrebt, eine Homöostase, d.h. ein Gleichgewicht herzustellen und aufrecht zu erhalten. Die scheinbar nicht zu durchbrechenden „anderen Welten“ des Kranken oder seine sog. fixen Ideen sind Konstrukte des (kranken) Gehirns, die im subjektiven Empfinden des Patienten eine völlige Stimmigkeit erzeugen. Daher ist es auch so schwer, dessen Überzeugungen zu widerlegen (das gilt übrigens auch für politische oder religiöse Fanatiker). Wir alle haben eben ein sehr großes Zutrauen zu dem, was uns unser Gehirn anbietet und das hat auch seine (evolutionsbiologische) Berechtigung, denn nur dieses spezielle Gehirn hatte es unter vielen anderen, die ausstarben oder in den Mägen von Säbelzahntiger und Co landeten, geschafft, unser Überleben zu sichern.
Der Schlüssel zu allen diesen Verwirrtheitszuständen ist die Agnosie, hervorgerufen durch eine Unterbrechung des kognitiven Signalflusses im Gehirn. Gelänge es aber, während solch einem Akutzustand, diesen Signalfluss wieder wenigsten teilweise und ausreichend wieder herzustellen, so wäre die Agnosie zumindest zum Teil aufgehoben und der Akutzustand wäre beendet. Vater würde seine Lieben wiedererkennen und weiterhin harmonisch bleiben trotz anderer Defizite. Eine ganze Reihe von z.T. möglichen und gefährlichen Verhaltensstörungen würden ausbleiben bzw. im Ansatz unterbunden.
Die Aufgabe besteht also darin, gleich nach Beginn des Akutszustandes bzw. in einer möglichen kurzen ankündigenden Phase zuvor (plötzliche Schweigen und Veränderung der Körperhaltung) die beginnende (Total)Agnosie aufzuheben. Leicht gesagt und schwer getan.
Aber man muss suchen. Suchen muss man nach allem, was die Erinnerung wieder herstellt. Das kann eine bestimmte gern gehörte Melodie sein, das kann auch ein bestimmter Geruch sein (auch bei Verlust des bewussten Geruchsempfindens werden insbesondere Gerüche m.E. unbewusst aufgenommen und haben sogar oft einen großen Einfluss auf Entscheidungen – „die Chemie muss stimmen“ hört man ja oft), das kann eine bestimmte Art des Streicheln des Partners sein und das kann möglicherweise auch durch Sauerstoff erfolgen. Hierfür das richtige Medikament zu entwickeln wäre ein weit größerer Segen als der fragwürdige Einsatz von Neuroleptika. Heilung würde das zwar auch nicht bringen, aber Milderung. Wir brauchen ein Antiagnosin – ist schon mal ein toller Name, oder?
Wie bringe ich den Kranken in das Hier und Jetzt zurück? Das ist die Frage. Wie mache ich ihm die Gegenwart mit den aktuellen Daten (Orten und Personen) wieder schmackhaft in kürzester Zeit?
Es wäre schön, wenn in dieser Hinsicht hier mitgedacht wird und Vorschläge kommen würden. Gleich ob scheinbar absurd oder sinnvoll.
Das Brainstorming ist eröffnet! Nur Mut und in die Tasten gegriffen!
LG
Egon-Martin
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