ich habe diesen Thread erfunden, um eine Zusammenstellung von Erfahrungen, Ideen und Vermutungen zu ermöglichen. Hier kann jede(r), alles schreiben, was er v.a. mit unkonventionellen Medikamenten und Methoden in Bezug auf Demenzen erlebt bzw. beobachtet hat. Auch Hypothesen bzw. Spekulationen über die mögliche Entstehung von Morbus Alzheimer bzw. Begleitsymptome können hier hineingeschrieben werden, usw. Dabei ist es egal, ob sich derlei zunächst als Unfug liest oder nicht. Jeder Hinweis kann bei näherer Betrachtung wertvoll sein - so grotesk er zunächst auch aussehen mag.
Ich fange mal an:
Viele Krankheitsverläufe sind von psychotischen Begleitsymptomen wie Diebstahls- oder Beziehungswahn und Halluzinationen geprägt. Wir wissen, dass derlei mit einem Neuromodulator namens Dopamin zusammenhängt. Diese Substanz ist im Normalfall bei gesunden Menschen im Gehirn notwendig, um unsere Aufmerksamkeit v.a. auf Neues bzw. Interessantes zu lenken. Zuviel davon kann allerdings dazu führen, dass alles mögliche als interessant angesehen wird, so dass man anfängt, sich mehr oder weniger große Gedanken darüber zu machen. Solche Gedanken können im Krankheitsfall zu eigenen bizarren Systemen verschmelzen, was dann in einer Psychose enden kann, wenn diese Systeme Macht über das Verhalten bekommen. Zuviel Dopamin im Sinne von chaotischen Einleitens ins Stirnhirn (präfrontaler Cortex, PFC) kann aber auch etwas anderes bewirken, nämlich eine Unkonzentriertheit mit Agitiertheit, die sich als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) äußert. Zu wenig Dopamin hingegen kann zu parkinsonartigem Verhalten führen (tatsächlich kann man Parkinson behandeln, wenn man eine chemische Vorstufe des Dopamin, das L-Dopa, verabreicht – zuviel davon kann aber auch wieder psychotisches Verhalten hervorbringen). Psychosen behandelt man hauptsächlich mit Neuroleptika, ADS mit Ritalin (Methylphenidat). Vereinfacht: Neuroleptika regeln die Dopaminanflutung des PFC herunter, Methylphenidat blockieren die Dopamintransporter in den Synapsen und sorgen so dafür, dass bereits in den synaptischen Spalt ausgeschüttetes Dopamin nicht wieder durch die Präsynapse aufgenommen werden kann, aber auch kein Dopamin („chaotisch“) nachgeliefert wird – also im Prinzip eine Dopaminreupatkeinhibition. Ritalin dämpft also – im Gegensatz zu den Neuroleptika - nicht das Dopamin sondern reguliert dessen Transport, so dass konzentrierte Aufmerksamkeit wieder möglich wird.
Was könnte das nun für die psychotischen Begleiterscheinungen bei Morbus Alzheimer bedeuten?
Als ich im Januar 2007 – vor genau einem Jahr - telefonisch erfuhr, dass Vater sein Haus als eine Kopie seines „wahren Hauses“ betrachtete, hatte ich zwar schnell durch Nachschlagen in einem Buch die wissenschaftliche Bezeichnung dafür - reduplikative Paramnesie – aber keine befriedigende Erklärung. Dieses Phänomen zieht sich m.E. bis heute durch die Krankheit, wenn auch nicht mehr als von ihm so artikuliertem „Kopieerleben“, so doch durch das häufige Suchen nach seinem wahren Zuhause, dem ständigen „nach Hause wollen“. Mein Erklärungsversuch dafür sieht so aus:
Wir tragen neuronal in Netzwerken codierter Rekonstrukte der Welt in uns, die im Normalfall mit der durch uns erlebten Umwelt im großen Rahmen deckungsgleich (stimmig im Sinne funktionierender Interaktionen) sind. Wir wissen z.B. was ein Kreis ist, weil wir von Kindheit an gelernt haben, derlei in uns neuronal zu codieren, was völlig unbewusst geschieht. Auch die gewohnte Umwelt – hier das Haus – ist auf sehr komplexe Weise in unserem Hirn codiert. Verschwindet aber nun eine Anzahl von Synapsen und Neuronen durch die neurodegenerative Erkrankung, so verändert sich damit auch die innere Repräsentation der Außenwelt. Was wir wahrnehmen und v.a. erkennen, ist aber immer nur die innere Repräsentation – wir leben nicht in der Welt, sondern im Bild, welches wir von der Welt haben. Dieses Erleben von Welt muss – vereinfacht – in Wahrnehmung und Erkennen aufgeteilt werden, denn Wahrnehmung und Erkennen sind nicht dasselbe. Erkennen beruht nämlich auf Vergleichsvorgänge der Wahrnehmung mit dem bereits gelernten und neuronal codierten Informationen. Sind diese beschädigt, kommt es zu einem Bruch zwischen Wahrnehmung und Erkennen – das Wahrgenommene entspricht nicht mehr den inneren Repräsentationen des gespeicherten Weltbildes. Folglich ist es subjektiv plötzlich neu bzw. fremd. Neues aber führt zu einer erhöhten Dopaminanflutung des PFC und in Folge davon zu einem auch aus dem Orientierungsbedürfnis entstehenden Gedanken, es müsse eine Verdopplung vorliegen oder es ist überhaupt nicht mehr das, was der Kranke kennt (weil ja sein zum Erkenntnisprozess führendes Vergleichsbild krankhaft verändert ist). Es könnte interessant sein, mit Hilfe spezieller Software an einem großen Computermonitor die (bildlich dargestellte) Umwelt solange zu verändern, bis der Kranke „seine gewohnte Umgebung“ erkennt. Vermutlich müsste man dazu alte Bilder der Umgebung einbeziehen, wenn sich die Umgebung – was ja oft der Fall ist – im Laufe der Zeit verändert hat. Diese wäre m.E. auch neurobiologisch von Interesse, weil dadurch Korrelationen bestimmter Hirnareale zur erlebten Figürlichkeit besser erkannt würden (man müsste das dann allerdings im Scanner machen und dem Kranken dort die Bilder zeigen). Würde sich daraus ergeben, dass der Patient plötzlich Erkennen anzeigt bei einem Bild der Umwelt, wie sie vor z.B. 30 Jahren tatsächlich vorhanden war, so ließe das ggf. Rückschlüsse auf den zeitlichen Verlauf der Codierungsprozesse (Synapsenwichtungen, Dendritenmsuter, Muster von Neuropopulationen, usw.) zu und möglicherweise kommt man auch der Lösung des sog. Bindingproblems (wie all diese Daten zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden) näher.
Es kann auch anders bzw. damit verwoben sein: Nicht die neuronal codierten Bilder gehen verloren, sondern der Zugriff darauf ist gestört. Der Hauptorganisator des Großhirns und Sitz des Kurzzeitgedächtnisses ist der Hippocampus (von denen wir zwei besitzen und die fast am Ende eines gebogenen schwanzartigen Systems unter dem Großhirn sitzen – das Ende davon sind die sog. Mandelkerne – Sitz starker emotionaler Einflüsse – v.a. der Furcht). Hier treten bekanntlich auch schon früh Störungen bei Morbus Alzheimer auf. Die immer wieder beobachtete scheinbare leider nur kurzzeitliche Verbesserung – plötzlich weiß der Patient doch wieder, was damals geschah und kann auch wieder richtig erkennen – weist ja auf eine noch vorhandene korrekte Umweltrepräsentanz hin. Es entfällt uns ja alle mal was, auf das wir auch bei angestrengtem Nachdenken nicht kommen und dann wachen wir nachts mal auf und wissen plötzlich wieder, was wir gesucht hatten. Dieses bei uns nur ab und an Passierende wird bei Demenz immer intensiver – so beginnt Morbus Alzheimer. Durch den meist sehr langsamen Verlauf der Krankheit hat das Gehirn natürlich auch Gelegenheit zur Selbstreparatur – so wachsen z.B. im Hippocampus sogar Neuronen nach. Leider ist die Krankheit dann doch schneller als die natürlichen Gegenmaßnahmen und so kommt es dann zur Ausbreitung auch auf Großhirnbereiche, so dass dann tatsächlich die o.g. Repräsentationen (die v.a. in den sog. Schläfenlappen sitzen) verschwinden. Warum beginnt aber diese Krankheit immer in diesen subcortikalen Bereichen? Was ist dort anders, was hat dort eine besondere Affinität zu pathogenen Prozessen? Spielt hier ein spezifisches Mikrogliaumfeld eine Rolle? Die Gliazellen haben wir ja noch gar nicht besonders beachtet – sie sind vielleicht viel mehr als nur Helferzellen.
Nicht nur der Patient, sondern wir alle halten am Konstrukt, an der Hypothese von Welt in unseren Köpfen fest. Im Unterschied zum Patienten aber sind unsere Konstrukte von Welt stimmig, da unsere (sozialen und anderen) Interaktionen im allgemeinen ausreichend reibungslos verlaufen. D.h. es herrscht bei Gesunden eine überwiegendende Deckungsgleichheit objektiver Gegebenheiten mit subjektivem Erleben (philosophische Betrachtungen, etwa die des sog. radikalen Konstruktivismus, lasse ich hier mal weg). Daher können wir unser Leben meistern. Viele Gehirnerkrankungen und m.E. auch alle sog. Geisteskrankheiten weisen alle den mehr oder weniger starken Bruch zwischen objektiver (realiter: intersubjektiver) Welt und subjektivem Erleben auf. Der Kranke ist gar nicht so sehr anders als wir. Auch er hat wie wir nichts anderes als seine von seinem Gehirn gelieferten Daten – nur leider fragmentiert. Da unsere Gehirne paradoxerweise selber in unser Erleben nicht vorkommen, haben wir bewusst keine Erkenntnisse über die vielen Filter- und Verarbeitungsprozesse darin. Nur ein kleiner Teil unserer Großhirnrinde (PFC) ist überhaupt bewusstseinsfähig – der überwältigende Teil ist pure „Automatik“ - unbewußt. Mein Vater hat keine Krankheitseinsicht. Wie sollte er auch? Bei Krankheiten tut erfahrungsgemäß immer etwas weh oder man fühlt sich allgemein nicht gut, es wird einem schlecht, usw. Das Gehirn aber ist schmerzunempfindlich und das Erlebte wird am noch Bekannten gemessen. Die Innenwelt ist entscheidend. Und deckt sich diese nicht mit einer neu wahrgenommenen Umwelt, handelt es sich eben um eine andere Umwelt als die bekannte. Die innere Logik funktioniert – so gesehen – korrekt. Angenommen, man wird betäubt und an einen fremden weit entfernten Ort verschleppt. Was passiert dann wohl beim Erwachen? Da rauscht nicht nur das Dopamin sondern auch noch manch anderes durch das Gehirn und man versucht sich zu orientieren. Man weiß nicht, wo man ist. Die Menschen dort kennt man nicht – vielleicht sprechen sie auch noch eine andere Sprache. Man bekommt keine verständlichen Antworten. Alles ist fremd. Was will man dann wohl? Natürlich weg – nach Hause will man. Aber man kann nicht weg. Als Gesunder wird man dann versuchen, sich irgendwie einzurichten, was aber der Kranke nicht mehr kann. Und hier liegt auch die Aufgabe: Zu helfen, dass der Kranke sich einrichten kann. Konstanten suchen und die Aufmerksamkeit des Kranken darauf richten. Was ist an allen Orten gleich? Die drei Raumdimensionen, die Schwerkraft, die Wärme, Essen und Trinken, elementare internationale Gesten, bestimmte körperliche Berührungen, lange bekannte Gegenstände (z.B. aus der Kindheit) als letzte Identitätsbrücke nutzen, usw. Ob man vielleicht durch Ritalin oder ähnlichem gezielt solche Aufmerksamkeit unterstützen kann, weiß ich nicht. Eine sehr wichtige Konstante scheint mir die Musik zu sein. Musik ist – jedenfalls nach eigenem Erleben – ein ganz ausgezeichneter Assoziationstrigger. Wenn ich z.B. alte Beat-Club Sendungen im entspannten Zustand sehe, kommen fast automatisch sogar die Stimmungen aus den 60iger Jahren bei mir mental wieder zum Vorschein bis hin zu Detailerinnerungen – ich habe das mal „Retromeditation“ genannt. Das hat auch zu vereinzelten Wiederaufnahmen alter Interessen geführt. Allerdings bin ich auch ein musikalischer Mensch der – wenn auch mehr schlecht als recht - drei Instrumente spielen kann. Das habe ich anscheinend von meinem Vater geerbt, denn Mutter kann das leider nicht. Hier gibt es also noch Möglichkeiten.
Die zunehmende Verfremdung der Umwelt und der ebenfalls zunehmende Kompetenzverlust bedrohen zudem das Selbst des Kranken. Psychotische Reaktionen als pathologischer Versuch zur „Selbstrettung“ wie bei der echten paranoiden Psychose könnten auch für die psychotischen Begleitumstände bei Alzheimer Demenz gelten.
Wie könnte man die Halluzinationen erklären? Bei meinem Vater handelte es sich z.B. um Arbeiter und Baumaschinen (es war u.a. ein Kran) im Garten. Die hat es tatsächlich einmal gegeben als die Garage gesetzt wurde. Hier kommt einst reales Geschehen von der Vergangenheit in die Gegenwart – ähnlich manchen Träumen. Also ist da was durchlässig geworden für Träume und Erinnerungen. Interessant ist, dass sämtliche Halluzinationen Vaters alles Dinge oder Personen sind, die es im realen Leben auch gibt – also keine surrealen oder Hieronymus Bosch Phantastereien. Man könnte im Gehirn verschiedene „Zeitebenen“ vermuten, die über einen fehlerhaften Bindungsprozess miteinander zu einem aktuellen Erleben verschmelzen – so als ob man ein altes Foto über ein aktuelles belichtet.
Warum erkennt Vater sich nicht mehr im Spiegel? Weil seine Vorstellung von seinem Aussehen nicht mehr der aktuellen entspricht.
Irgendwie liegt dem allen ein einheitlicher Prozess gegenseitig einander durchdringender Konstruktebenen zugrunde.
Oha – jetzt ist das ein XXL-Beitrag geworden. Ich entschuldige mich vorab bei allen, die derlei nicht mögen und lieber kurze Beiträge lesen. Aber ich habe auch die Entdeckung gemacht, dass ich beim Schreiben über das Thema, welches mich derzeit am meisten sorgt und bedrückt, eine gewisse Entlastung verspüre – zumal in einer schlaflosen Nacht.
Danke für die Aufmerksamkeit!
Liebe Grüße an alle von
Egon-Martin
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