Wir diskutieren zuweilen in diesem Forum u.a. den Einsatz sog. Psychopharmaka bei Demenzpatienten. Diese Diskussionen tragen oft einen kontroversen Charakter insbesondere in Bezug zu den sog. atypischen nichtanticholinergen Neuroleptika (Atypika).
Glaubwürdige Schilderungen aus sehr leidvollen Erfahrungen von Leona und anderen haben auch mein Misstrauen gegenüber diese Substanzen geweckt - ein mir vor fast 5 Monaten verordnetes tetrazyklisches Antidepressivum habe ich bis heute nicht genommen. Ich muss aber auch hinzufügen, dass ich gelegentlich (das darf man nur gelegentlich nehmen, da diese Substanzen ein nicht zu unterschätzendes Abhängigkeitspotential aufweisen!) bei starkem Stress 1,5 mg/Tag Bromazepam einnehme, was mir gute Dienste leistet (Achtung: Halbwertzeit bis 28 h, d.h. ohne Pausen sammelt sich die Substanz im Körper an – bei 1,5 mg/Tag kommt man schon nach neun Tagen zu einer tatsächlichen Tagesdosis von 3 mg durch diese Akkumulation – „nur“ 3 mg, die aber bei wochenlangen täglichen Gebrauch nicht einfach mehr abgesetzt werden dürfen sondern über zeitweilige Diazepamsubstitution langwierig ausgeschlichen werden müssen). Würden meine Depressionen stärker bis unerträglich werden, würde ich allerdings zum Tetrazyklikum greifen (Johanniskraut oder L-Tryptophan diskutiere ich hier jetzt nicht).
Der letzte Satz im vorigen Abschnitt verdeutlicht die Grenze, nach deren Überschreiten ich die Notwendigkeit des Einsatzes von Psychopharmaka für notwendig halte: Wenn es unerträglich wird.
Unerträglich wird es, wenn alle bisher ggf. erfolgreichen Methoden wie Gesprächs- oder Verhaltenstherapie zunehmend versagen und die Krankheit des Patienten bzw. sein Verhalten andere stark in Mitleidenschaft zieht. Das ist de facto auch Fremdgefährdung, wenn auch nicht immer gleich akut. Akut wird diese Gefährdung z.B., wenn der Kranke seine Angehörigen nicht nur nicht mehr erkennt, sondern in ihnen zu bekämpfende Feinde sieht oder gefährliche Handlungen aufgrund von Halluzinationen begeht, usw.
Man kann nicht eine letztlich ins Absurde gehende Überaktivität von Vorsichtsmaßnahmen leisten und etwa peinlichst genau seine Ansprache an den Kranken andauernd darauf überprüfen, ob darin vielleicht ein Auslöser für einen Schub stärkerer Verwirrung (bis zum Delir) liegen könnte. Eine solche Auffassung verkennt nahezu völlig den endogenen Charakter der Erkrankung (man hat in früheren Zeiten sogar mal versucht, Demenzen psychoanalytisch zu behandeln – natürlich ohne Erfolg, denn es gibt im Allgemeinen bei Demenzen keine verursachenden Psychotraumen in der Kindheit, usw.). Mehr noch: Es besteht die Gefahr einer Verstrickung in Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen, weil man ja immer bei sich bzw. in seinem Verhalten die Ursache für das „Ausflippen“ des Kranken sucht, wenn man exogene bzw. auslösende Reize im eigenen Verhalten vermutet. Selbstverständlich verdient der Kranke ein Maximum an Rücksichtnahme, die er aber oft in seiner krankhaften Realitätsverkennung als Bedrohung empfindet, weil ihm aufgrund von Neuronenverlust das für Gesunde logische Schlussfolgern („was da gemacht wird, dient meinem Schutz“) nicht mehr möglich ist. Auslösende Reize für irrationales Verhalten sind also nicht „außen“ zu suchen sondern „innen“ in der gestörten Hirnaktivität. Daher kann man mitunter machen, was man will, es ist immer falsch in der fehlerhaften subjektiven Sicht des Kranken.
Es ist also – auf den ersten Blick - die Neurodegeneration, die hier verursacht und keine Psychose. Dieser Unterschied ist mir wichtig, weil daraus tatsächlich ein ernst zu nehmender Einwand für die Verabreichung von Atypika ersichtlich sein könnte. Es ist daher m.E. primär (!) kein psychotischer Wahn, in dem der Demenzkranke lebt, sondern eine reduzierte Welthypothese, die im Verlauf der Krankheit immer mehr von den Hypothesen über die Welt, die Gesunde für die Welt halten, abweicht. Denn wir alle tragen ja nicht die Welt in uns und auch kein Abbild von ihr sondern ein Konstrukt, d.h. eine Hypothese über die Welt. Der Unterschied unserer Konstrukte zu denen des Kranken besteht schlicht und einfach in der besseren Anpassung an die Umwelt weswegen wir unser Leben selbstständig meistern können und der Kranke nicht und daher unserer Hilfe bedarf. Während der Psychotiker keine reduzierte Hypothese sondern eine (krankhaft) exotische Hypothese von Welt in sich trägt, ist der Demenzkranke zur Konstruktion solcher oft bizarren Systeme gar nicht fähig.
Dennoch scheinen sich bestimmte Symptome Dementer mit Symptomen der Psychose zu ähneln. Da wären z.B. die häufig anzutreffende Diebstahlsparanoia oder Halluzinationen. Eine echte Paranoia – sie ist oft ausgeklügelt – liegt aber m.E. bei Demenz nicht vor und die Halluzinationen sind meist optischer Natur während bei Psychosen akustische Phänomene überwiegen (Stimmen, die beleidigen oder Befehle erteilen, usw. – selbst das muss nicht mit einer Psychose zusammenhängen und kann auf andere Störungen hinweisen).
Eigentlich ist es eher merkwürdig, dass es bei Demenzen nicht zwangsläufig zu einer Psychose kommt. Denn es findet ja ein zunehmender Ich- oder Kontrollfähigkeitsabbau statt, der mit einem psychotischen Weltkonstrukt (krankhaft) abgewendet werden könnte (bei der Paranoia „rettet“ sich das Gehirn mit einer phantastischen Überhöhung des Selbst – auch der von zig Geheimdiensten Verfolgte ist ja zunächst einmal nichts anderes als in seiner Selbstwahrnehmung ungeheuer wichtig wie auch der Patient, der sich für Gott hält). Also kann man vielleicht vermuten, dass bei der Demenz das Gehirn aufgrund der Schädigungen nicht mehr fähig ist, eine Psychose zu entwickeln und die o.g. Phänomene möglicherweise Ansätze für eine Psychose darstellen (rudimentär psychotisch)? Das würde die Ähnlichkeit der Symptome erklären. Und das würde dann auch den Einsatz von Atypika rechtfertigen. Aber die Dosierung darf dann auch nur der eines „psychotischen Ansatzes“ entsprechend – sprich, sie muss sehr gering gewählt werden. Es geht ja nicht darum einen selbsternannten Gott wieder auf die Erde zu holen oder einem angeblich Verfolgten den Wahn zu nehmen, sondern „nur“ um eine Abschwächung rudimentär psychotischer Symptome.
Natürlich ist auch hier v.a. die Praxis das Kriterium der Wahrheit. Hilft es oder hilft es nicht – das ist die Frage. In diesem Forum habe ich Erfolgs- und Misserfolgsmeldungen gelesen. Menschen sind verschieden und Krankheitsverläufe sind verschieden. Und wie man im Plattdeutschen sagt „Watt den een sein Uhl is den annern sien Nachtigall“ so mag auch dem einen helfen, was dem anderen schadet. Wenn schon unsere Fingerabdrücke individuell variieren, wie viel mehr Variationen mag man dann erst bei den Vernetzungen von 100 Milliarden Neuronen in menschlichen Gehirnen finden? Man muss jedem einzelnen Kranken ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit widmen, dann – davon bin ich überzeugt – wird auch die beste Methode für jeden gefunden werden. Das Problem besteht also nicht in einem Ja oder Nein bei der Verabreichung von Psychopharmaka sondern in einer individuell peinlichst genau angepassten Medikation. Wer hier meint, leichtfertig Medikamente verabreichen zu müssen ohne ausreichende Fallbegutachtung und ohne engmaschige Kontrollen ist als medizinische Fachkraft m.E. ebenso wenig geeignete wie jemand, der allein auf dubiose Selbstheilungskräfte oder ähnlichem vertraut.
Soweit meine kurzen „Nachtgedanken“.
Danke für die Aufmerksamkeit.
Gruß
Egon-Martin
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