Eine Rezension des Films von Thomas LIESEN „Das Rätsel Alzheimer“ (arte, 13.04.08, 00Uhr35)
Ich muss zuvor etwas voranschicken, was wir später zum Verständnis des Filminhalts brauchen werden:
Es gibt einige wenige Menschen, die ihr Leben lang Tabak rauchen und alt werden – prominentestes Beispiel ist Altbundeskanzler Helmut SCHMIDT. Doch kein vernünftiger Mensch würde daraus auf eine Ungefährlichkeit des Tabakrauches schließen, denn die überwiegende Zahl der notorischen Raucher erkrankt früher oder später an Arteriosklerose, Bronchialkarzinom oder anderen mehr oder weniger tödlichen Defiziten. Wir nennen das statistische Signifikanz und meinen damit die Wahrscheinlichkeiten, die sich durch ein bestimmtes lang anhaltendes Verhalten ergeben.
In unserem Alltagserleben blenden wir Statistik meistens aus und sind eher gewohnt, in einfachen Ursache-Wirkungs-Schemata zu denken. Das hat sich seit Jahrmillionen evolutionsbiologisch bewährt und ist daher auch in unserm Denken vorherrschend. Doch was im Alltag oft richtig weil nützlich ist, versagt bei genauer Betrachtung naturwissenschaftlich erfassbarer Vorgänge. Sogar das, was wir Naturgesetze nennen, entpuppt sich bei eingehender Analyse als Idealisierung von Verhalten einer großen Anzahl untersuchter Phänomene, die in einer bestimmten Beziehung miteinander reagieren. Das weiß jeder Schüler, der z.B. im Physikpraktikum schon einmal Messreihen aufgenommen hat. Einzelne aus solchen Experimenten gewonnene Daten sagen nicht viel aus und entsprechen nicht exakt der Vorhersage lt. einem Naturgesetz. Erst die große Zahl der Daten lässt die Relationen sichtbar werden und bestätigen so das Naturgesetz – machen es erst „sichtbar“. Noch dramatischer ist es in der Quantenphysik, die uns erst nach dem Zusammenbruch der sog. Wahrscheinlichkeitswellenfunktion etwas zeigt (Dekohärenz), nämlich i.d.R. ein Wellen- oder Partikelverhalten eines Quantenobjekts, das selber uns nicht vorstellbar ist. Erstaunlicherweise ist es aber gerade dieser Sachverhalt der Unschärfen, der das Leben und mithin uns selber erst möglich machte, denn es sind die Reduplikationsunschärfen (aka Mutationen) in den Kopiervorgängen der Erbsubstanz, die im Verlauf unvorstellbarer Zeiträume durch die jeweilige und vielfältige Umwelt selektiert, die große Formenvielfalt des Lebens hervorgebracht haben. Diese Umschärfen sind die Freiheitsgrade der Natur („Gottes Spielwiese“, wenn man so will), die eben nicht in einem klassisch-mechanistischen Sinne völlig determiniert ist, wie es uns die „Loyalisten der Kausalität“ immer wieder nahe legen wollen. Die Befangenheit im Newton-Cartesianischen-Laplaceschen Paradigma ist dermaßen verbreitet, dass sie kaum wahrgenommen wird, sondern im Gegenteil als Voraussetzung eines monistischen Materialismus stillschweigend akzeptiert wird. Die Ursache dafür sind selbstredend die großen Erfolge, die mit eben diesen Voraussetzungen zweifelsohne erzielt wurden. Der Inhalt des o.g. Film, den ich nachfolgend rezensiere, basiert ebenfalls auf diese Art stillschweigender Voraussetzung.
Der Film zeigt anfangs Ordensschwestern hohen Alters (von 80 bis 107 Jahren, wie es im Film heißt) eines Klosters in Minnesota, USA. Der Wissenschaftler David SNOWDON hatte diese Nonnen gebeten, nach ihrem Tod ihre Gehirne ihm zur medizinischen Untersuchung zu überlassen. Die Schwestern sind geistig sehr rege. Sr. BERNADETTE, Inhaberin eines Magistergrades, wird als intellektuell bezeichnet und auch Sr. MATTHIA galt als geistig fit. SNOWDON untersucht die Hirne der mit 85 (Sr. BERNADETTE) und 104 (Sr. MATTHIA) verstorbenen Nonnen. In beiden Hirnen findet der Wissenschaftler eine große Häufung von Plaques, das Hirn von Sr. BERNADETTE bezeichnet er als „eines der schlimmsten Alzheimerhirne, die wir je gesehen haben“. Bei Sr. BERNADETTE lag sogar eine genetische Disposition für AD vor, aber sie war bis zuletzt geistig fit. „Man kann ein Alzheimerhirn haben, ohne an Alzheimer zu erkranken“ resümiert SNOWDON.
Im Gegensatz dazu wird die 42-jährige Martina PETERS vorgestellt, die sich im Anfangsstadium von AD – genetisch bedingt - befindet.
Dann wird ein Schachspieler gezeigt, der sich an seinen Arzt wendete, weil er statt acht nur noch fünf Züge vorausberechnen konnte. Er starb kurz darauf. Nach der Obduktion dieses Menschen stellte sich heraus, dass er AD fast im Endstadium hatte.
Es wird eine erste Schlussfolgerung vermutet: Geistige Regsamkeit und besonders langes aktives Musizieren (eine Jazzband mit einem 83-jährigen sehr vitalen Drummer wird gezeigt) schütze vor AD, zögere diese zumindest stark hinaus.
Jetzt kommen die Mäuse ins Spiel. Es handelt sich um Untersuchungen des Wissenschaftlers Thomas BAYER. Es wird zunächst eine gesunde Maus vorgestellt, die sich instinktiv normal verhält. Ihr gegenüber tritt dann eine gentechnisch mit dem „AD-Gen“ manipulierte kranke Maus auf, die sich unsicher und ängstlich in eine Ecke zurückzieht. BAYER erklärt, dass nur etwas 10 % aller „plaquebefallenen“ Gehirn AD aufweisen.
Eine zweite Vermutung wird deutlich: Plaques sind möglicherweise nicht die eigentlichen Verursacher von AD.
Dann tritt Pat McGEER auf, ein Wissenschaftler, der bei der Suche nach Viren eine neue Gewebefärbung ausprobierte. Diese Methode wandte er auch bei der Untersuchung von AD-Gehirnen an und entdeckte eine abnormen Häufung von Mikrogliazellen, ein Anzeichen für entzündliche Prozesse im Gehirn. Wenn AD auf entzündliche Vorgänge im Gehirn beruht, sollten Menschen, die häufig entzündungshemmende Medikamente einnehmen müssen, signifikant weniger an AD erkranken als andere. Mittel wie Ibuprofen oder Diclofenac sind solche Medikamente und werden v.a. von Rheumapatienten genommen. McGEER führte also eine Erhebung unter älteren Rheumapatienten durch und kam zu dem Schluss, dass unter ihnen sechsmal weniger AD-Erkrankungen zu finden waren als bei anderen.
BAYER nahm das zum Anlass, seinen AD-Mäusen Entzündungshemmer zu verabreichen und stellte fest (in Schwimmexperimenten), dass sich die Orientierungsfähigkeit dieser Tiere auffallend gebessert hatte.
Die dritte Vermutung suggeriert: Was mit Ibuprofen geht, sollte nicht mit anderen teureren Medikamenten versucht werden.
Schließlich trat der Wissenschaftler Matthias RIEPE auf und wies auf die Möglichkeit der Impfung bei AD hin. Dieses wird bereits an einigen AD-Kranken in der Charité durchgeführt. Man habe aus Tierversuchen und auch am Menschen bereits Erfolge zu verzeichnen.
Es werden daraufhin Bilder von einem frühen Versuch der Impfung in der Schweiz 2002 gezeigt und kommentiert. Damals seien von 300 geimpften Patienten 15 an Hirnhautentzündung erkrankt von denen zwei verstarben.
Dann schwenkt der Film wieder auf die Charité und der Kommentator erzählt, dass die zuvor gegebene Erlaubnis, die dort geimpften AD-Patienten zu interviewen, zurückgezogen wurde.
RIEPE sollte zu den Befunden bei den Nonnen und zu den Entzündungshemmern Stellung nehmen, durfte das aber lt. Filmkommentar nicht veröffentlichen, weil die Pharmaindustrie (WYETH), die den Impfstoff liefert, derlei nur nach Rücksprache gestattet (die hier wohl zu einem abschlägigen Bescheid geführt haben dürfte).
Die fünfte Vermutung suggeriert: Die „böse Pharmalobby“ bestimmt fast alles und verhindert einfache oder alternative „Lösungen“, die den Umsatz ihrer Präparate schmälern könnte.
Mein Eindruck:
Zunächst sei gesagt, dass man sich über Berichte in den Medien zum Thema Demenz freuen sollte, da sie geeignet sind, das Problembewusstsein in der Bevölkerung zu schärfen und Vorurteile gegenüber den Betroffenen zu reduzieren. Vor allem die Angehörigen werden dadurch ermutigt, freier über das Problem auch Fremden gegenüber zu sprechen, können falsche Scham abbauen.
Was soll man aber speziell von dem o.g. Film sonst noch halten? Ich komme zu dem Schluss: Der Film verunsichert.
Er zeigt plakativ Forschungsansätze, die der fachlich unkundige Zuschauer kaum nachvollziehen kann und weckt womöglich falsche Hoffnungen. Musiker sind geschützter als andere? Was war mit Helmut Zacharias? Was mag aus dem Professor aus Münster geworden sein, der erste Anzeichen von Demenz zeigte, und den Gerhard ROTH beiläufig in einem seiner Bücher erwähnte? Zu behaupten, bei diesen Leuten sei die Demenz später ausgebrochen als üblich, wäre reine Spekulation, denn was heißt „üblich“, was heißt „später“? Wäre mein Großvater, der weite Teile seines Lebens nicht besonders gesund gelebt hatte und mit 96 Jahren verstarb, womöglich 110 Jahre alt geworden, hätte er gesunder gelebt? Derlei Spekulationen sind m.E. völlig nutzlos, sie beweisen nichts.
Dass Beta-Amyloid auch in größeren Mengen in gesunden Gehirnen alter Menschen zu finden ist, weiß die Fachwelt schon lange. Hier irritiert das monokausale, lineare Denken – also eben das, was ich eingangs erwähnte. Der vorschnelle Schluss „Viele Amyloidplaques – also Alzheimer“ vereinfacht das Problem auf eine fast schon unerträgliche Weise. Und um jetzt noch so richtig zu verwirren, sei daran erinnert, dass tatsächlich bereits Studien über erfolgreiche Impfungen (zur Modifikation des Immunsystems um Beta-Amyloid abzuräumen) vorliegen (nicht zuletzt durch den Schweizer Pionier Roger NITSCH). Diesem aber widmet sich der Film nicht, denn man kann sich ja allemal mehr unter Ibuprofen vorstellen als unter den komplizierten Prozessen des Immunsystems, usw. Was war denn mit den 285 anderen Patienten, die 2002 geimpft wurden? Also sind es nun die Plaques oder sind sie es nicht? Sie sind es – aber nur als Glied einer Kette von Vorgängen, welche die Krankheit hervorrufen. Kettenglieder sind nur wirksam in einer Kette und zu der gehören immer mehrere Komponenten. Wenn man aber ein bestimmtes Kettenglied entfernt, ist der Prozess gestoppt. Das Bild einer Kette ist natürlich vereinfacht – man müsste vielmehr von simultanen vernetzten Prozessen reden. Die Frage lautet dann: Wo muss ich wie eingreifen um diesen komplexen Vorgang möglichst gefahrlos für den Patienten zu beenden? Die hyperphosphorylisierten Tau-Proteine wurden im Film übrigens nur sehr vage angesprochen (von „Tengeln“ war einmal ganz kurz die Rede) – auch ein Bestandteil der Komponenten. Und was ist mit cAMP und und und...?
Wir befinden uns hier in der Mikro- oder Molekularbiologie. Und eben dort offenbart sich uns die Erkenntnis eines komplexen Universums, in dem allzu kausale Interpretationen nicht mehr in dem Maße gelten wie sie uns aus dem Alltag gewohnt sind. Unser Vorstellungsvermögen versagt hier. Bereits eine simple geometrische Reihe verblüfft uns, wenn wir uns ein Schachbrett vorstellen, auf dessen erstes Feld ein Reiskorn, gefolgt von jeweiligen Verdoppelungen auf den Folgefeldern vorstellen. Am Ende der ersten Reihen haben wir 128 Körner – nicht viel, aber am Ende der vierten Reihe sind es schon über eine Milliarde und ganz am Ende, dem 64.Feld, haben wir mehr als neun Trillionen Körner. Ein anderes Beispiel: Ein Teich wächst mit Seerosen zu, indem sich alle zwei Wochen ihre Anzahl verdoppelt. Wie lange dauert es bis zum Vollbewuchs des Teiches mit Seerosen, wenn der Teich erst zur Hälfte mit Seerosen bewachsen ist? Nur zwei Wochen! Wenn aber schon bei diesen sehr simplen mathematischen Operationen unser Vorstellungsvermögen versagt, wie dann erst, wenn zur Quantität die Qualität hinzukommt? Wenn wir es mit multikausalen Vernetzungen zu tun haben evtl. noch angereichert mit quantenphysikalischen Phänomenen? Man hört manchmal vorwurfsvoll: „Zum Mund fliegen können sie, aber Krebs, bestimmte Demenzen, usw. können sie nicht heilen.“ „Zum Mond fliegen“ ist aber – pardon – fast lächerlich einfach gegen den Nachvollzug und erst recht den planmäßigen Eingriff in hochkomplexe biologische Strukturen. „Zum Mond“ kann man im Prinzip mit der Mechanik Newtons fliegen – die Vorgänge molekularere Interaktion in komplexen Systemen zu begreifen und sinnvoll zu manipulieren verlangt aber wesentlich mehr als das. Hinzu kommt als besonderes Merkmal noch die Verschiedenheit individuellen Lebens. Von den vorsokratischen Atomisten bis zu den Suchern nach der Weltformel oder der „großen vereinheitlichen Theorie“ (GUT) sind wir bestrebt, alles auf einfache – am besten „griffige“ - Formeln und Modelle zurück zu führen. Dieser Reduktionismus ist oft sehr erfolgreich – wir wäre recht armselig dran ohne ihn. Aber er birgt auch die Gefahr der Blindheit gegenüber Metaebenen in sich, die sich zwischen Grundlagenmodell und Augenschein erstrecken und oft individuell sehr variabel sind (nicht nur beim Fingerabdruck). Und damit kommen wir zur Hypothesenvielfalt, die sich in unserem Fall auf Modelle zur Erklärung des pathogenen Geschehens bei Morbus Alzheimer derzeit ergibt. Ich bin nur ein Laie, aber ich weiß, dass viele Hypothesen eigentlich nur besagen, dass bislang keine Theorie vorliegt, denn zur Theorie wird eine Hypothese immer erst bei wiederholbarer Verifikation und Widerspruchsfreiheit. Und genau das besagt – bei Lichte besehen (!) – der o.g. Film: Wir haben (noch?) kein revisionssicheres Modell zur Pathogenese von Morbus Alzheimer! Diese Erkenntnis bleibt aber leider – jedenfalls aus meiner Sicht, die natürlich subjektiv ist – hinter den plakativen Darstellungen verborgen. Es wäre sicher besser gewesen, genau diese Erkenntnis als Leitmotiv für den Film zu verwenden statt sich in suggestiven Mutmaßungen zu ergehen.
Für mich ist Morbus Alzheimer ein Sammelbergriff mehrere Demenzarten. Das nach Alois ALZHEIMER benannte Krankheitsbild kann als Oberbegriff verstanden werden, soweit derartige Demenzen den Erkenntnissen von ALZHEIMER subsummierbar sind. Da aber seit den Tagen ALZHEIMERs eine nicht unbeträchtliche Menge an Erkenntnissen hinzukamen, die das ursprüngliche Bild erweitern, wäre es m.E. sinnvoller, von Demenzerkrankungen aus dem Formenkreis des ursprünglichen Bildes zu reden. Zudem halte ich Alzheimer-Demenzen für individuell variabel auch im mikrobiologischen Sinne, wobei aber Gruppierungen möglich sind.
Noch ein Wort zur Pharmaindustrie:
Ich bin gewiss kein Freund von Lobbyismus oder der Macht der Konzerne. Da gäbe es für eine bessere Politik, als wir sie zur Zeit haben, sicher eine Menge zu regeln. Dennoch sollte bedacht werden, dass auch hier uns unsere Wahrnehmung zuweilen Streiche spielt. Ein Skandal zerstört leider viele Erfolge – denkt man z.B. an Contergan oder die Vergiftung des Rheins. Man sollte sich vor allzu viel Schwarz-Weiß-Denken und durch Einzelfälle ausgelöste Vorurteile hüten. Die Massenproduktion von Medikamenten hilft doch zweifellos vielen Menschen. Dass auch hier die unerbittlichen Sachzwänge des Marktes wirken und mitunter einiges dadurch aus dem Ruder läuft, liegt in der Natur des Systems. Leider haben wir z.Z. kein besseres und die bisherigen Alternativen waren weit schlimmer, sie kollabierten schlussendlich an ihrer eigenen Inkompetenz. Wir leben aber doch auch nicht in einer Verbotsgesellschaft, in der keine Informationen über medizinischen Alternativen möglich wären. Am Ende regulieren sich Märkte immer von selber. Wenn eine Ware keinen Erfolg bringt, wird sie von niemanden mehr nachgefragt. Auch mögliche Bluffs haben kein langes Leben und ziehen i.d.R. juristische Konsequenzen und Imageverlust nach sich. Salopp gesagt: Es kommt immer alles raus und die Konkurrenz jubiliert.
Schließlich bleibt mir noch zu wünschen, dass man alle Ansätze wissenschaftlich weiter verfolgen soll. Auch wenn ein Ansatz nur etwas Aufschub oder Milderung bringt, ist er es wert, beachtet zu werden. M.E. geht es darum, Zeit zu gewinnen – Zeit bis zum gentechnologischen Durchbruch, der m.E. alleinig wirklich nachhaltig helfen wird – nicht nur bei Demenzen. Hier endlich wird es möglich sein, individuell vollständig angepasste Therapien zu entwickeln.
Pardon für diesen langen Beitrag – aber dieses Forum ist mir schon etwas Gehirnschmalz wert.
Gruss
Egon-Martin
Kommentar