Aus unbekannten Gründen hatte ich zwei schlaflose Nächte hinter mir und zwei arbeitsreiche Tage. Ich hielt mich mit Unmengen coffeinhaltiger Getränke und (damals noch) mit Unmengen von Nikotin wach und halbwegs konzentriert. Am späten Nachmittag nach über 50 Stunden Wachsein hatte ich noch Besorgungen zu erledigen und ging zu diesem Zweck in ein Kaufhaus. Dort passierte es dann. Ich hatte eine Art Sekundenschlaf auf der Rolltreppe und kurz danach erkannte ich im ersten Augenblick meine gesamte Umwelt nicht mehr. Es war zwar alles da, doch konnte ich nichts zuordnen. Aber ganz schnell wurde ich mir wieder bewusst, auf einer Rolltreppe zu stehen, in einem Kaufhaus in einer bestimmten Stadt und alles war wieder wie gewohnt. Bemerkenswert an diesem an sich belanglosen Vorfall war mir das zwar kurze, aber deutlich abgesetzte Nacheinander einer sich wieder aufbauenden Vertrautheit. Dieser Vorfall hatte mich doch so verblüfft, dass ich ihn im Gedächtnis behielt. Und heute vermittelt mir dieses Erlebnis eine leichte Ahnung davon, wie ein Demenzkranker seine Umwelt erlebt. Bei ihm setzt sich diese Umwelt – die ja grundsätzlich nicht die Welt, sondern nur das Bild von Welt ist, welche als Hirnkonstrukt wahrgenommen wird – langsamer und zunehmend unvollständiger zusammen.
Ein anderes Beispiel: Wer öfters mit dem Zug unterwegs ist, kennt jene irritierende Befindlichkeit, die sich einstellt, wenn der Zug auf dem Nebengleis abfährt und man für einen kurzen Moment denkt, der Zug, in dem man selber sitzt, habe sich in Bewegung gesetzt. Ein solches Erlebnis ist deshalb irritierend, weil durch die Abfahrt des anderen Zuges der subjektive Eindruck entsteht, der eigene Zug fahre in die entgegengesetzte Richtung und man sitze daher in einem falsche Zug.
Wer auch nur eine kleine Schiffsreise nach Helgoland unternimmt und dabei ein Wetter vorfindet, bei dem sich die Horizontlinie nicht genau finden lässt, der mag auf dem Wasser scheinbar ganz in der Nähe ein seltsames weißes Stück Papier schwimmen sehen, dass sich erst auf den zweiten Blich als ein entferntes Schiff am Horizont entpuppt.
Und wer kennt nicht die vielen optischen Täuschungen, Vexierbilder und dergleichen, die uns verblüffen und damit auch ein klein wenig desorientieren?
Wann haben wir eigentlich zum letzten Mal jemanden zu Unrecht verdächtigt; wann waren wir unbeherrscht; wann beharrten wir aus Trotz auf unsere Ansicht – längst wissend, dass sie falsch war?
Und wann haben wir zuletzt jemanden verwechselt oder nicht gleich erkannt?
Wir kennen alle Momente der Desorientierung und der Fehlleistungen, gehen nur meist schnell über sie hinweg. Es sei denn, es erkrankt ein Familienmitglied an einer Demenz. Dann sind wir sensibilisiert und fangen an mit selektiver Wahrnehmung bei uns solche Phänomene zu suchen in der Angst, selber an Demenz zu erkranken. Abgesehen von der Angst, die uns vielleicht derlei auch schnell wieder verdrängen lässt, ist es aber sehr gut, in solcher Hinsicht sensibilisiert zu werden. Denn dadurch können wir uns Möglichkeiten erschließen, etwas in die Erlebniswelt der Kranken einzutauchen.
Es ist also m.E. sinnvoll, einmal darüber nachzudenken, wann wir z.B. das letzte Mal zur Wohnung zurückgekehrt sind, kurz nachdem wir sie verlassen hatten, um nachzuschauen, ob wir wirklich den Herd ausgeschaltet und die Tür abgeschlossen haben.
Derlei Erlebnisse sollten zur Einsicht führen, dass Demenz eigentlich – wenigstens für weite Abschnitte – nichts anderes ist, als ein Verharren in solchen Befindlichkeiten. Mit anderen Worten: Wir kennen es alle bis zu einem gewissen Grad. Dieses aber sollte ein wenig dazu beitragen, der AD und ähnlichen Erkrankungen ihre Stigmata zu nehmen.
Sich der eigenen „minidementen“ Situationen bewusst zu werden und sie im Gedächtnis präsent zu halten könnte man „Einfühlungsarbeit“ nennen. Je besser wir – und das gilt ja grundsätzlich – in der Lage sind, uns in den jeweils anderen hineinzuversetzen, desto eher wird auch Kommunikation möglich sein. Oft verfallen wir in den Fehler – ich tue das jedenfalls leider immer mal wieder – mit einer bestimmten Erwartungshaltung an den Kranken heranzugehen. Dann haben wir zu sehr uns selber im Kopf und bereiten uns selber dann auch die Enttäuschungen.
Nur mal zum Nachdenken.
Gruss
Egon-Martin
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